Filmfestspiele Venedig: Ist Kapitalismus eine Sünde?

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Ein starker Jahrgang trotz Michael Moores kontraproduktiven Beitrags „Capitalism: A Love Story“. Werner Herzog triumphiert doppelt: „Bad Lieutenant“ und „My Son, My Son,What Have Ye Done?“

Wie verzweifelt ist Michael Moore eigentlich? Die Szenen seiner filmischen Polemik Capitalism: A Love Story wirken oft wie Parodien aus der TV-Serie „Die Simpsons“. Etwa, wenn Moore mit feierlicher Miene einen Priester fragt: „Ist Kapitalismus eine Sünde?“ Der antwortet wenig überraschend: „Ja.“ Womit Moore glaubt, dem System einen weiteren verheerenden Schlag versetzt zu haben. Subtil war der dicke Amerikaner noch nie, diesmal ist seine Abfolge von halblustigem Archivmaterial (nach dem Priester: ironisch umsynchronsierte Szenen aus Bibelfilmen, in denen Jesus Profitdenken preist), endlos weinenden Opfern und zusammenhanglosen Fakten nur mehr kontraproduktiv.

Wer wäre nicht gegen Ausbeutung und für Solidarität? Aber Moores Krisenzeitabrechnung mit gewissenlosen Kredithaien, dubiosen Bereicherungspraktiken von Großkonzernen und Banken sowie politischem US-Filz verspielt jeden Glaubwürdigkeitskredit im Namen einer abstrusen, selbstgefälligen Antikapitalismusshow, die dem Thema weder gerecht werden kann noch will. Der angebliche Weltherrschaftsplan der Citibank-Gruppe: irgendwelche Zettel mit Leuchtstiftmarkierung von perfiden Stellen. Zur Illustration zweifelhafter Spekulationsstrategien eine Gleichung mit höherer Mathematik und Moores Versicherung: „Sie verstehen das nicht? Schon okay, es soll absichtlich verwirrend sein!“ Schleierhaft ist freilich nur der Kontext der Präsentation.

Wohlfeiles Entertainment

Und Moores echte Aufdeckungsversuche – etwa ein privat betriebenes Jugendgefängnis, das durch Bestechung die Delinquentenquote hochtrieb – gewinnen im Kontext seines von Verschwörungen raunenden, dabei vor Halbwahrheiten strotzenden Films sicher nicht an Plausibilität. Tragödien und gerechte Empörung über unfaire Verhältnisse werden auch von ihm ausgebeutet: für wohlfeiles Entertainment, dessen längst dem globalen TV-Trash einverleibte Manier nicht einmal mehr unterhaltsam ist. Selbst seine Stunteinlagen wirken wie Moore aus zweiter Hand: Er schreit vor Banken nach Rückzahlung von Hilfsgeldern und Festnahme der Direktoren. Bezeichnend, dass der beste Satz des Films von einem Wall-Street-Broker kommt: Als Moore vor der Börse um Ratschläge bittet, kontert einer mit: „Hören Sie auf, Filme zu machen!“

Dass Moores brav beklatschter Erguss das unvermeidliche Medienereignis von Venedig ist, ist umso bedauerlicher, weil viele starke Filme daneben untergehen: etwa der virtuose Meta-Thriller Accident vom Hongkonger Cheang Soi, der Körpertransformationsknaller Tetsuo the Bullet Man vom Japaner Shinya Tsukamoto (beide im Wettbewerb), der bewegende Porträtfilm Totó vom Österreicher Peter Schreiner, die feministische Gesellschaftsstudie Scheherazade, Tell Me a Story vom Ägypter Yousry Nasrallah (beide im Zweitbewerb „Orizzonti“) sowie – vielleicht das geheime Meisterwerk am Lido – der außer Konkurrenz gezeigte WikingerfilmValhalla Rising vom Dänen Nicolas Windig Refn, ein Mix aus archaischem Abenteuer und visionärer Avantgarde.

Nicht übersehen wurde dafür der triumphale Doppelschlag von Veteran Werner Herzog: Zu seinem offiziellen Wettbewerbsbeitrag Bad Lieutenant: Port of Call New Orleans mit einem entfesselten Nicolas Cage kam als Überraschungsfilm My Son, My Son, What Have Ye Done? Diese unheimliche Geschichte eines Mannes (Michael Shannon), der seine Mutter mit einem Schwert tötet, erzählt Herzog in Rückblenden voller typisch bizarrer Details: etwa einem tanzenden Zwerg auf einem Riesenbaumstumpf.Bad Lieutenant beginnt hingegen als scheinbar konventioneller Krimi um einen Polizisten, der sich vor Hurrikan-Katrina-Hintergrund im Drogenwahn verliert. Schnell häufen sich heiter-absurde Merkwürdigkeiten wie Spezialaufnahmen von Echsen oder der Cajun-Breakdance eines Geists neben seiner Leiche: eine Einstimmung für die Schlusspointe(n), wenn Herzog (genial) einfach alle Erwartungen auf den Kopf stellt – und der Held sich die Frage stellt, ob Fische träumen.

Ein heiterer Herzog fragte bei der Pressekonferenz: „Wie geistesgestört kann ein Festival sein, dass es zwei Filme von mir in den Wettbewerb nimmt?“ Etwas Vernünftigeres hätte die Kinomostra kaum machen können.

Cardinale in Venedig

„Questi Fantasmi“ heißt die bereits seit Jahren fortgeführte historische Retrospektive, in der vernachlässigte Perlen italienischen Kinos vorgestellt werden, oft mit Besuch von Stars. So präsentierte am Samstag Claudia Cardinale das Drama La viaccia (1961).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.09.2009)

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