„Mein Leben als Zucchini“: Dieser Kinderfilm nimmt sich Zeit für Gefühle

Mein Leben als Zucchini
Mein Leben als Zucchini(c) Thimfilm
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„Mein Leben als Zucchini“ erinnert mit Charme an klassische Animationstechniken – und daran, dass es noch andere Erziehungsmethoden gibt als jene der US-Kulturindustrie: Eine erfreuliche Begegnung. Ab Donnerstag.

Ein Kind bastelt einen Drachen und lässt ihn, mitten in der Stadt, aus dem Fenster fliegen. Es stapelt Bierdosen zu einer Pyramide, während im Off ein Streit tobt. Die Kamera gleitet durch das Haus, der Streit tobt im Fernsehen, belauscht von einer verwahrlosten Frau in einem Fauteuil. Die Pyramide fällt polternd um, eine keifende Stimme ertönt, die Frau steigt die Treppe zum Dachboden hinauf, offensichtlich, um das Kind zu prügeln – das mit einem Knall die Bodenklappe schließt. Stille. . .

Für einen Oscar in der Kategorie Animationsfilm wurde „Mein Leben als Zucchini“ von Claude Barras nominiert. Der neunjährige Icare, benannt nach Ikarus, dem kühnen Flieger, hat sich selbst den bescheidenen Namen Zucchini gegeben. Nach dem Vorfall daheim ist die Mutter „im Himmel“. Ein Polizist versucht vorsichtig, das Unglück zu erforschen – und bringt Zucchini ins Waisenhaus. Dort leben Kinder, die Schreckliches erlebt haben, die Ermordung ihrer Eltern, Drogen, Missbrauch, Misshandlungen. Der heimliche Chef der Kinderbande ist der rothaarige Junge Simon – und er plagt Zucchini, nennt ihn „Kartoffel“ oder richtet nachts eine Lampe auf den Bettnachbarn, sodass dieser nicht schlafen kann.

Zucchini sind ein robustes Gemüse mit zarten, wunderschönen Blüten, sie wachsen praktisch überall, in der Erde, auf der Terrasse im Topf und auf der Fensterbank. Zucchini stammen aus der Familie der Kürbisse, sie können klein bleiben und riesengroß werden, die kleinen sind schmackhafter als die großen. Ob Barras an diese Symboliken gedacht hat? Der blauhaarige Zucchini-Knabe ist jedenfalls auch zart, aber auf seine Weise recht robust. Er erfährt, dass der lästige, unberechenbare Simon auch ein schlauer Bursch ist – und verliebt sich in Camille. Eines Tages erfährt Zucchini, dass der Polizist, der ihn als erster nach dem Tod seiner Mutter interviewte und ihn seither regelmäßig besucht hat, ihn als Pflegekind aufnehmen will. Zucchini muss, darf das Waisenhaus verlassen. Was wird aus Camille?

Einmal schwach und schwierig sein

Die meisten US-Kinderfilme enthalten eine Botschaft zur Ertüchtigung: Sei stark, sei erfinderisch, lass dich nie unterkriegen und kämpfe, wie widrig die Umstände auch sein mögen. In „Sing“ geht der Koala-Impresario einer Castingshow mit seinem Theater pleite und gibt selbstverständlich nicht auf, in „Störche“ ringt ein kleiner Junge zäh um die Aufmerksamkeit seiner viel beschäftigten Eltern, in „Elliot, der Drache“ trifft ein Kleinkind im Wald einen Drachen und fürchtet sich keineswegs. Und Dorie, die Fischfrau mit dem schwachen Gedächtnis, findet nach einem halsbrecherischen Abenteuer mit einem Lastwagen, der von der Brücke stürzt, ihre Eltern.

„Mein Leben als Zucchini“, eine schweizerisch-französische Koproduktion, trumpft weder mit Special Effects auf noch erzählt der Film von Fitness und Fröhlichkeit in jeder Lebenslage. Die pädagogische Botschaft ist weiter gefasst: Sei mutig, aber auch wenn du schwach bist, traurig oder schwierig, wirst du geliebt und unterstützt.

Das Waisenhaus, in der Kinderliteratur und im Film meist eine Folterstätte, ist hier ein Ort des Verständnisses für Erzogene und Erzieher. Frau Rosy küsst den Lehrer und wird schwanger, die Kinder grübeln, ist ein Baby mit Eltern, das im Waisenhaus aufwächst, eine Waise oder nicht? Und: Kann man vom Küssen Kinder kriegen oder nur, wenn der „Schniedel“ explodiert, wie der neunmalkluge Simon behauptet, der seine Kameradinnen und Kameraden natürlich längst aufgeklärt hat. Beim Ausflug in die Berge, wo viel Schnee liegt, gibt es eine Kinderdisco. Die Heimleiterin ist kein „Drache“, sondern eine freundliche Dame, die versucht, die Kapriolen ihrer traumatisierten Zöglinge mit Ruhe und Humor zu nehmen.

Realismus statt Spaßroutine

„Mein Leben als Zucchini“ ist auch optisch ansprechend. 54 Puppen und 60 gebaute Kulissen wurden für die Produktion in Stop-Motion-Technik – nach dem Vorbild der klassischen Zeichentrickfilme – hergestellt. Die Ästhetik ist ein feiner Kontrast zu den immer perfekter und durchgedrehter werdenden Hollywood-Kreationen – die nicht schlecht sind, aber häufig einförmig, obwohl sich die Technik immer toller entwickelt. Die meisten dieser Filme sind witzig, aber sie schnurren auch mit einer gewissen Spaß-routine ab, Verfolgungsjagd inklusive. In der Realität ist das Kinderleben allerdings oft unspektakulär, langweilig oder schmerzlich – und dann auch wieder erfreulich.

Das Verhalten von Kindern, wie sie provozieren, wie sie auf Erschütterungen reagieren, wie sie sich und andere trösten, ist in „Mein Leben als Zucchini“ sehr genau beobachtet – und die Kinder stammen aus verschiedenen Kulturkreisen: Béatrice etwa, ihre Mutter wurde abgeschoben, kommt aus Afrika, jedes Mal, wenn ein Auto vorbei- fährt, stürzt sie aus dem Heim, als die Mutter sie endlich besucht, wirft sie sich aber keineswegs in deren Arme, sondern rennt geschockt davon. „Mein Leben als Zucchini“ ist ein berührender Film, der sich in nur 66 Minuten vor allem eins nimmt, was Kindern heute fehlt: Zeit für das Wichtige. Gefühle.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.02.2017)

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