Das unergründliche Spiel einer Vergewaltigten

Nur beim Schließen der Fensterläden ist der Mann stark in diesem Film: Isabelle Huppert mit Laurent Lafitte als attraktivem Nachbarn.
Nur beim Schließen der Fensterläden ist der Mann stark in diesem Film: Isabelle Huppert mit Laurent Lafitte als attraktivem Nachbarn. (c) Filmladen
  • Drucken

In "Elle" brilliert Isabelle Huppert als Michèle, die von einem Mann überfallen wird und abgründig darauf reagiert. Paul Verhoevens Film zeigt boshaft-zärtlich menschliche Perversionen - für die USA ging er damit schon zu weit.

Auf den ersten Blick merkt man ihr nichts an. Auf den zweiten auch nicht. Sie räumt die Scherben weg, nimmt ein Schaumbad, bestellt sich Sushi. Die Holiday Rolls, sind die gut? Aha. Ein Tag wie jeder andere für Michèle (Isabelle Huppert). Nur eben nicht. Erst vor ein paar Stunden hat sie ein maskierter Mann in ihrer Wohnung überfallen und brutal vergewaltigt. Ein Schock, ein Trauma. Oder? Die Gewalttat scheint Michèle zu beschäftigen – aber nur so, wie einen die Wettervorhersage beschäftigt. Am nächsten Morgen geht sie zum Arzt, lässt die Schlösser austauschen, kauft sich Pfefferspray. Pragmatische Reaktionen. Im halben Scherz schilt sie ihre schwarze Hauskatze: Sie hätte den Angreifer wenigstens ein bisschen kratzen können!

Am Anfang von Paul Verhoevens „Elle“ sieht man das Tier, wie es den Übergriff beobachtet, reglos und stumm. Was in ihm vorgeht, lässt sich nur erahnen. Dasselbe gilt für Michèle – und genau darin liegt der Clou dieses ungewöhnlichen, widerborstigen Films.

In allen Machtverhältnissen steckt Sex

Statt die Geschichte eines Opfers zu erzählen, erzählt er die Geschichte einer Frau – einer starken, schwierigen, widersprüchlichen Frau, die sich nicht auf ihren Umgang mit dem Sexualverbrechen reduzieren lässt. Und er erzählt diese Geschichte abseits eindeutiger Genrekategorien, ist Psychodrama, Thriller und Sozialsatire in einem.

Denn nach der Vergewaltigung lebt Michèle ihr Leben einfach weiter, und wir nehmen daran teil. Als erfolgreiche Leiterin einer Pariser Videospielfirma hat sie viel zu tun: Das neueste Produkt, ein Fantasy-Rollenspiel mit der Anmutung eines Porno-Fiebertraums, steht kurz vor der Veröffentlichung. „Die orgiastischen Zuckungen sind zu zögerlich!“, züchtigt die Chefin ihre überwiegend jungmännlichen Mitarbeiter nach der Präsentation einer unzweideutigen Zwischensequenz. Man merkt schon: In diesem Film (wie in den meisten Werken Verhoevens) ist so gut wie jedes Machtverhältnis, jede noch so alltägliche Beziehung sexuell aufgeladen. Michèles Sohn ist ein Taugenichts mit Aggressionsproblemen, der unterm Schlapfen seiner Freundin steht. Ihre alte Mutter hält sich einen Muskelmann als erotischen Jungbrunnen. Sie selbst hat eine Affäre mit dem virilen Gatten ihrer besten Freundin, wirft aber immer wieder neugierig-begehrliche Blicke in Richtung des neuen Nachbarn.

Alle sind verstrickt in Lustkomplexe. Doch im Unterschied zu ihren Mitmenschen behält Michèle stets die Oberhand. Selbst wenn sie ihrem notgeilen Geliebten im Büro einen runterholt: Die Nonchalance, mit der sie einen Mistkübel zwecks Samenfang herbeischiebt, macht das unmissverständlich klar. Sie weigert sich beständig, sich von anderen bestimmen zu lassen – auch nicht von ihrem Vergewaltiger, der ihr nach der Tat bedrohliche Botschaften zu schicken beginnt. Statt sich einschüchtern zu lassen oder die Polizei zu benachrichtigen, macht sie einen Waffenschein. Irgendwann kommt es dann zur Konfrontation – und obwohl Michèle bisweilen von Rache träumt, verläuft die Sache nicht, wie man vermutet.

Niemand hätte diese Rolle besser spielen können als Huppert. Ihr Image als unergründlich-abgründige Grande Dame, die ihr Selbstbewusstsein mit kleinen Grausamkeiten zu stärken weiß, passt hier wie angegossen. Ein knappes „Oh“ von ihr sagt mehr als tausend Worte – es kann bodenlose Verachtung signalisieren oder Verletzlichkeit freilegen, Menschen vernichten oder erlösen („Oh . . .“ heißt im Übrigen auch die Romanvorlage von Philippe Djian). Und niemand hätte diesen Film drehen können außer Paul Verhoeven. Der Stoff ist wie gemacht für seinen boshaft-zärtlichen Blick auf das Menschengeschlecht, ein ideales Comeback-Substrat nach 15 Jahren Langfilmpause. Der Holländer führt hier konsequent weiter, was seine letzte kurze Arbeit „Tricked“ begonnen hat: Die sardonische Psychoanalyse gutbürgerlicher Scheinwelten ohne moralischen Zeigefinger. Huppert und Verhoeven bilden ein regelrechtes Dreamteam hintersinniger Euro-Kino-Provokation – dass der Regisseur in den USA keine Schauspielerin fand, die sich an das kontroverse Material herantrauen wollte, darf man insofern als Glücksfall werten.

Wobei: So kontrovers ist „Elle“ im Grunde gar nicht. Von Vergewaltigungs-Bagatellisierung kann keine Rede sein – vielmehr setzt sich der Film auf intelligente Weise mit den verschlungenen Wegen von Traumabewältigung auseinander und bringt dabei Verständnis für die kleinen und großen Perversionen auf, die jeder Mensch mit sich herumschleppt. Und endet mit der Solidarisierung zweier Frauen. Dass er in Cannes auf großen Anklang stieß und sich an der Spitze vieler Kritikerlisten findet, zeugt indes davon, dass die oft missverstandenen Doppelbödigkeiten im Schaffen Verhoevens inzwischen salonfähiger sind – zumindest in Europa. Die USA, wo seine Blockbuster-Subversionsgroßtaten „Showgirls“ und „Starship Troopers“ in Grund und Boden verrissen wurden, tun sich immer noch schwer damit: Isabelle Huppert darf sich zwar über eine Nominierung für den Hauptdarstellerinnen-Oscar freuen, doch in der Kategorie „bester fremdsprachiger Film“ glänzt „Elle“ durch Abwesenheit. „Scham ist kein genügend starkes Gefühl, um uns von irgendetwas abzuhalten“, heißt es an einer Stelle des Films. Offenbar doch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.02.2017)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.