Kelly Reichardt: "Digitale Bilder sind viel zu genau"

„In Maile Meloys Erzählungen geht es um Innerlichkeit, und das stellt mich vor spannende Herausforderungen: Wie inszeniert man die Schwierigkeit, Gefühle auszudrücken?“ Kelly Reichardt beim Drehen von „Certain Women“.
„In Maile Meloys Erzählungen geht es um Innerlichkeit, und das stellt mich vor spannende Herausforderungen: Wie inszeniert man die Schwierigkeit, Gefühle auszudrücken?“ Kelly Reichardt beim Drehen von „Certain Women“.(c) IFC
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Kelly Reichardt hat mit "Certain Women" wieder einen feinfühligen Film gedreht. Mit der "Presse" sprach sie über ihr Faible für Literaturvorlagen, Missverständnisse und den unfassbaren Himmel über Montana.

Eine Anwältin, deren verzweifelter Klient zum Geiselnehmer wird. Eine Mutter, die auf der Suche nach Sandsteinblöcken für ihr Haus mit Ehemann und Tochter streitet. Ein Bauernmädchen, das sich in eine überforderte Abendschullehrerin verliebt. Drei Frauenleben in Montana, drei unmerklich schwingende Sehnsuchtsgeschichten, feinfühlig erzählt und behutsam fotografiert, als hätte die Kamera zwischen die Zeilen der drei Short Stories von Maile Meloy geblickt, die als Vorlage dienten: Das bietet Kelly Reichardts neuer Film „Certain Women“. Reichardt gehört zu den sensibelsten und stilsichersten unabhängigen Filmemacherinnen der USA. Ihr Werk ist ein Almanach Amerikas abseits der Metropolen, wo die Welt vor lauter Ruhe bebt. 1994 debütierte sie mit „River of Grass“, einem Roadmovie mit Motorschaden, der Durchbruch folgte 2006 mit der intimen Waldausflugsminiatur „Old Joy“. Seither wächst ihr Renommee beständig. Diesmal konnte sie Stars wie Kristen Stewart, Laura Dern und Michelle Williams für Hauptrollen gewinnen.

Die Presse: Was reizt Sie an Literaturadaptionen im Allgemeinen und Maile Meloys Werk im Besonderen?

Kelly Reichardt: Ich interessiere mich für literarische Texte, weil ihre Urheber meist bessere Autoren sind als ich. Literatur mit ausdifferenzierten Figuren als Fundament für die eigene Arbeit verwenden zu können empfinde ich als Segen. Dabei lässt Maile Meloys Stil viel Raum für filmische Ausführungen. Ihr geht es um Innerlichkeit, und das stellt mich beim Dreh vor spannende Herausforderungen. Wie inszeniert man die Schwierigkeit, seine Gefühle auszudrücken?

Kommunikationsprobleme bilden in Ihren Filmen oft den dramatischen Kern.

Ich erhebe keinen Anspruch auf große Statements zum Thema Zwischenmenschlichkeit. Aber wenn Menschen nicht zusammenfinden, fußt das öfter auf Missverständnissen als auf tatsächlichen Differenzen. In der Episode über die Anwältin wünscht ihr Klient, sie wäre ihm Mutter oder Vertraute, nicht nur professionelle Beraterin, während sie sich einfach von einem nervigen Kunden bedrängt fühlt. Trotzdem gibt es flüchtige Momente des Einvernehmens.

Sie haben viel aus Meloys Kurzgeschichten übernommen, aber auch Entscheidendes verändert. So hat in Ihrer Version von „Native Sandstone“ das Paar eine Tochter, die in der Vorlage fehlt. Warum?

Was mir an der Geschichte gefiel, war das ständige Hin und Her des Beziehungsalltags: Wie das Paar sich näherkommt und wieder auseinanderdriftet, immer und immer wieder. Die mürrische Tochter hilft, diesen Konflikt etwas deutlicher zu machen. Aber wer weiß, was ich mir damals dabei dachte... Vielleicht habe ich eine ähnliche Familiendynamik bei Bekannten beobachtet und sie spontan ins Drehbuch einfließen lassen. Drei ist auf jeden Fall keine harmonische Zahl. Und die von Michelle Williams gespielte Ehefrau ist für mich die einsamste Figur des ganzen Films – im familiären Kontext wird das einem noch stärker bewusst.

Die zweite große Änderung: Sie haben den Stallburschen aus der verhinderten Liebesgeschichte „Travis B.“ in eine junge Frau verwandelt.

Das Klischee des einsamen Viehzüchters passte für mich einfach nicht zum Film. Wenn man einen Mann allein mit seinem Pferd oder seinem Hund zeigt, stellt sich schnell eine gewisse Freiheitsromantik ein. Zeigt man eine Frau in derselben Situation, denken alle: Oh, wie traurig! Wo ist nur der Mann an ihrer Seite? Es ging mir auch darum, dieses Bild zu unterwandern.

Die einzelnen Episoden des Films tangieren einander kaum – dennoch verzichten Sie auf Kapitel. War Ihnen das wichtig?

Ja. Die fließenden Übergänge sollen betonen, dass es sich um Parallelexistenzen handelt. Und ich wollte die Zuseher nicht aus dem Erzählfluss herausreißen.

Nach einem Film in Florida und vier in Oregon haben Sie für „Certain Women“ erstmals Montana zum Drehort gekürt.

Der Ortswechsel war überfällig. Oregon habe ich sozusagen totgedreht, obwohl es ein sehr vielfältiger Staat ist, mit Wüsten, Wäldern und dem Ozean im Westen. Montana ist dagegen von Land umschlossen und liegt im Schatten großer Gebirgsketten. Mit Küstenatmosphäre hat das nichts zu tun, man fühlt sich von der Außenwelt abgeschnitten. Auch das Licht und die Luft sind ganz anders. Aus irgendeinem Grund wirken die Dinge in dieser Höhenlage weniger scharf, verschwimmen im Blick und vor der Kamera. Der Himmel lässt sich kaum fassen – man nennt es „Big Sky Country“. Und weite Flächen des Landes sind unbewohnt. Um irgendwo hinzukommen, muss man sehr lang fahren.

Sind die besonderen Lichtverhältnisse der Grund dafür, dass Sie auf 16-mm-Film gedreht haben?

Wir haben mit Digitalkameras experimentiert, aber sie konnten die Textur der Landschaft nicht einfangen. Digitale Bilder sind viel zu genau – an hellen Tagen sahen die Aufnahmen mit ihren harten Konturen fast aus wie Cartoons.

Hatten Sie die illustre Besetzung des Films schon von Anfang an im Kopf?

Jedes Casting ist ein langsamer Prozess, bei dem eine Rolle die andere bedingt. Aber mit vielen der Schauspielerinnen und Schauspieler in „Certain Women“ wollte ich schon seit Langem zusammenarbeiten. René Auberjonois Stimme ist mir etwa sehr vertraut, weil ich ihren Einsatz in Robert Altmans Western „McCabe & Mrs. Miller“ oft in meiner Filmton-Vorlesung am Bard College behandelt habe. Es war sehr schön, sie endlich auf dem Set eines meiner eigenen Filme zu hören.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.03.2017)

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