„Neruda“: Der Dichter, der Socken und Stalin besang

Gejagt vom Polizisten Peluchonneau, der zugleich zum Erzähler wird: Luis Gnecco als seine Häscher narrender Neruda.
Gejagt vom Polizisten Peluchonneau, der zugleich zum Erzähler wird: Luis Gnecco als seine Häscher narrender Neruda. (c) Polyfilm
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Der Film „Neruda“ greift eine abenteuerliche Episode aus dem Leben des chilenischen Dichters auf: seine Flucht vor politischer Verfolgung 1948 und 1949. Ein elegisches Spiel mit Dichtung und Wahrheit.

Die Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts kennt viele schillernde Figuren, doch nur wenige von ihnen sind so facettenreich wie der chilenische Nationaldichter und Nobelpreisträger Pablo Neruda. 1904 als Sohn eines Lokführers geboren und in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, machte ihn sein erotisch-melancholischer Lyrikband „Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung“ mit nur 20 Jahren zum Star und ebnete den Weg für eine kaleidoskopische, erfahrungssatte und widersprüchliche Vita: Neruda war Konsul in Spanien, Argentinien und Südostasien, Freund von Legenden wie Federico García Lorca und Pablo Picasso, glühender Kommunist, Parteipolitiker und Agitator, Bourgeois, Bohemien und Bonvivant, liebender Ehemann und notorischer Frauenheld, Feinschmecker und Koch aus Leidenschaft, rastloser Weltbürger und Sprachrohr des chilenischen Volkes. Seine Memoiren heißen bezeichnenderweise „Ich bekenne, ich habe gelebt“.

Auch Nerudas Schaffen lässt sich schwer auf einen Nenner bringen – manche Fans sprechen scherzhaft von einem „Poeten für alle Fälle“. Internationale Berühmtheit erlangte er als Sehnsuchtsbarde, der epische Umfang und politische Furor seines an Whitman erinnernden Verszyklus „Canto General“ hievten ihn ins weltliterarische Pantheon – doch es scheint kaum etwas zu geben, worüber er nicht gern geschrieben hätte, kein Gegenstand war unter seiner Würde. Im Dickicht von Nerudas monumentalem Œuvre finden sich Oden an das Alter, die Erde und den Regen, an den einfachen Mann und die Dichtung selbst; aber auch an Tische und Sessel, Teller und Löffel, Katzen und Hunde, Äpfel und Orangen, Zwiebel und Artischocken, Labortechniker und Astronauten, das Atom und die Apotheke, Paul Robeson und Arthur Rimbaud oder, weniger rühmlich, die Diktatoren Lenin und Stalin. Selbst für seine Socken hatte der Vielschreiber ein paar Strophen übrig.

Ein Polizist wird zu Nerudas Jäger

Wie wird man als Filmemacher jemandem gerecht, der so ausgiebig von der Welt gekostet hat, so viele Leben in sich vereint? Pablo Larraín, Aushängeschild des chilenischen Gegenwartskinos, kennt die Antwort: Gar nicht. Und wählt für seine filmische Annäherung an den Dichter einen Zugang, der diesem wahrscheinlich gefallen hätte: Statt eine bekömmliche Biopicbrühe aufzukochen, setzt er auf die Fiktionalisierung einer besonders abenteuerlichen Episode aus Nerudas Biografie: seiner spektakulären Flucht vor politischer Verfolgung in den Jahren 1948 und 1949. Schließlich fragte sich der Autor schon in seiner Nobelpreisrede, ob er dieses Kapitel seiner Existenz „erfahren oder selbst verfasst“ hat.

Larraín beginnt in medias res, skizziert in einer virtuosen Abfolge von Momentaufnahmen das ambivalente Porträt eines mythenumrankten Mannes auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Nach einer Attacke gegen Präsident González Videla, einst Hoffnungsträger der chilenischen Linken, droht Neruda (Schauspielveteran Luis Gnecco mit dem Charme eines verschmitzten Intellektuellen) die Verhaftung. Seine Freunde drängen ihn unterzutauchen; widerwillig erklärt er sich bereit. Als Jäger wird der Polizist Peluchonneau auf ihn angesetzt (toll: Gael García Bernal), abseits des Namens eine freie Erfindung der Filmemacher. Mit Stetson, feinem Schnurrbart und grauem Anzug sieht er aus wie das Abziehbild eines Klischee-Mafioso – und zählt nicht zu den Leuchten seiner Zunft. Der Clou des Films liegt darin, diese Faschistenkarikatur zum gleichermaßen kurzsichtigen wie allwissenden Erzähler zu machen.

Poetische Botschaften an die Häscher

„Selten“, lautet Peluchonneaus knappe Antwort auf die Frage, ob er Gedichte lese. Dennoch fasziniert ihn Neruda – weil er insgeheim weiß, dass letztlich nur „Don Pablo“ selbst die Macht besitzt, ihn zur Hauptfigur dieser Geschichte zu adeln. Und die Aura des Verfolgten (der seinen Häschern ständig durch die Lappen geht, aber nie vergisst, kleine poetische Botschaften an sie zu hinterlassen) färbt immer stärker auf den eingebildeten Beamten ab – und irgendwann klingt sein Voice-over, als hätte ihn Neruda selbst verfasst.

Bis es so weit ist, gleitet der Film auf verschlungenen Pfaden von einer halbwahren Station zur nächsten und entblättert unterwegs ganz beiläufig die Tiefenschichten seiner Titelfigur. Dieser Breitwandfließbewegung, elegant choreografiert von Larraíns Stammkameramann Sergio Armstrong, haftet etwas Elegisches an – ganz wie dem musikalischen Leitmotiv, Charles Ives' sanftem Streicher-und-Bläser-Sinkflug „The Unanswered Question“.

Doch die wehmütige Grundstimmung wird immer wieder bewusst durchbrochen, von Humor oder metafiktionalen Verfremdungseffekten: Manchmal wechselt ein Schnitt mitten im Satz den Gesprächsort, und während sämtlicher Autoszenen laufen im Hintergrund unübersehbar Rückprojektionen. Larraín geht es, genau wie in seinem First-Lady-Porträt „Jackie“ (das zwar jünger als „Neruda“, aber seltsamerweise früher in Österreich angelaufen ist), um die magischen Wechselwirkungen zwischen Dichtung und Wahrheit. Selbst der Titel hat hier einen doppelten Boden: In Wirklichkeit hieß der Dichter Ricardo Reyes – Pablo Neruda war nur sein Pseudonym.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.03.2017)

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