Cannes: Hanekes "Happy End" ist ein Medley seiner größten Hits

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Am Sonntag feierte Michael Hanekes jüngster Film, „Happy End“, Premiere. Als eine Art Karriere-Querschnitt bietet er fünf Haneke-Filme zum Preis von einem – versteht sich aber auch als Zeitkommentar.

Michael Haneke könnte Cannes-Geschichte schreiben: Falls sein neuer Film „Happy End“ ihm eine dritte Goldene Palme einbrächte, wäre das ein Festivalrekord. Im Fokus stehen die Laurents: eine große, unglückliche Bauunternehmerfamilie. Der alternde Patriarch George (Jean-Louis Trintignant) leidet an Demenz und scheint jeden Lebenswillen verloren zu haben. Sein Sohn Thomas, ein erfolgreicher Arzt (Mathieu Kassovitz), mutet mit Frau und Kind zufrieden an – doch der Schein trügt. Workaholic-Tochter Anne (Isabelle Huppert) leitet die Firma und geht ihrem Sprössling Pierre (Franz Rogowski), dem schwarzen Schaf der Sippe, permanent auf die Nerven.

Hinzu kommt die 13-jährige Eve (Fantine Harduin), Thomas' Tochter aus einer früheren Ehe: Nachdem ihre Mutter wegen einer Überdosis Antidepressiva ins Krankenhaus muss, zieht sie in das geräumige Anwesen des Clans, das bis zum Plafond gefüllt ist mit existenzieller Leere. Und Eve fügt sich mit ihren soziopathischen Neigungen nahtlos in diese bürgerliche Hölle ein.

Ein Film als Rätselmosaik

Cannes-Intendant Thierry Frémaux hatte „Happy End“ bei der Programmpressekonferenz im April als selbstreferenzielles Werk beschrieben. Und tatsächlich bietet der Ensemblefilm eine Art Medley der größten Hits des Regisseurs – eine Collage aus seinen bevorzugten Motiven, Themen und ästhetischen Strategien, die auch das direkte Selbstzitat nicht scheut. Seine Rätselmosaikstruktur, deren Zusammenhänge sich nur langsam erschließen, erinnert an „Code inconnu“ und „71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls“. Die Entfremdungseffekte asozialer Medien an „Bennys Video“. Die Tradition von Gefühlskälte an „Das weiße Band“. Aber auch auf „Amour“, „Caché“ und „Die Klavierspielerin“ spielt „Happy End“ an, und fast alle formalen Kniffe, die Hanekes Filme auszeichnen, kommen irgendwann zum Einsatz.

Wiederholt fragt man sich etwa, wem der Blick gehört, den man gerade teilt: Besonders bei Ansichten von Bildschirmen, Displays und Desktopoberflächen ein zutiefst verunsicherndes Gefühl. Gleich die erste Einstellung des Films wirkt auf diese Weise: Eine Frau geht ihrer abendlichen Hygieneroutine im Badezimmer nach. Jemand filmt sie mit dem Smartphone, sagt per Kommentarfunktion jeden ihrer Schritte voraus. Ein Stalker? Ein sonderbares Spiel? Wie so oft bei Haneke bleibt das zunächst im Unklaren. Später kommen andere Irritationsmittel hinzu: Gespräche, die man sieht, aber nicht hören kann, Totalen, die Gesichtserkennung erschweren. Und Gesichtserkennung ist ein passendes Wort: Die Uneindeutigkeit vieler Bilder fordert Aufmerksamkeit, macht einen zum Überwacher, der nach verfänglichen Indizien Ausschau hält.

Allerdings klären sich die Verhältnisse (im Unterschied zu „Caché“) nach und nach auf. „Happy End“ ist womöglich der ultimative Haneke-Film, aber fraglos nicht seine originellste Arbeit. Wollte man böse sein, könnte man sagen, dass dem österreichischen Kunstkino-Veteranen die Ideen ausgehen. Freundlicher könnte man von einer Quersumme seiner Karriere sprechen.

Und obwohl die Virtuosität, mit der er hier Versatzstücke seines Schaffens verkoppelt, besticht, hält sich der Mehrwert ihres Ineinandergreifens in Grenzen. Wieder einmal offenbart sich ein Panorama der Vereinsamung, der toxisch sublimierten Todestriebe, der Lieblosigkeit. Wobei es sich natürlich als Zeitkommentar versteht: Die Diagnose fällt wenig überraschend vernichtend aus.

Famoser Jean-Louis Trintignant

Europa, das ist in „Happy End“ ein Land, in dem geradezu feudale Verhältnisse herrschen. Hier beuten korrupte Eliten rechtlose Arbeiter aus, hier treibt sich die Wohlstandsgesellschaft langsam in den Wahnsinn, während sie ihre Jugend verwahrlosen lässt. Facebook? Nichts weiter als ein Sammelbecken des Verdrängten. Und die Wahrnehmung der Flüchtlinge, die einen Neuanfang suchen, ist mehr als latent rassistisch („Happy End“ spielt in Calais, wo die Räumung eines Flüchtlingscamps im Oktober 2016 zum Versorgungsnotstandssymbol geriet).

Doch es gibt auch Neues im Haneke-Land: Die Zuspitzungen fallen so drastisch aus, dass sie zum Teil fast ins Absurde kippen, manchmal meint man eine Prise schwarzen Humors zu entdecken. Die famose Schauspielleistung des 86-jährigen Trintignant trägt einiges zu diesem Eindruck bei: Der Lebensüberdruss seiner Figur äußert sich oft in präzise gesetzten sardonischen Bemerkungen. Anderswo wird es ungewohnt ausgelassen: In einer der eindringlichsten Szenen des Films versucht sich Pierre in einer Karaokebar an einem Exorzismus seiner Verzweiflung, tanzt wild zu den Klängen von Sias Pophit „Chandelier“.

Wie gut die Chancen Hanekes auf eine dritte Goldene Palme stehen, lässt sich kaum abschätzen. Im Vergleich zu „Amour“, der in Cannes euphorisch rezipiert wurde, fielen die ersten Reaktionen auf „Happy End“ eher verhalten aus. Andererseits ist er als beizender „Zur Lage“-Film wie gemacht für den oft als politisches Statement vergebenen Hauptpreis. Doch die Konkurrenz ist groß. Unter anderem auch von Filmemachern wie Ruben Östlund und Yorgos Lanthimos, die zum Teil selbst mit Hanekes Stil flirten – und ihn gleichfalls humoristisch unterfüttern. Die Schüler könnten den Meister überholen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.05.2017)

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