„La Pivellina“: Das Zirkusleben, ein Leben im Durchzug

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„La Pivellina“ von Rainer Frimmel und Tizza Covi entscheidet sich nicht zwischen Film und Wirklichkeit.

Die handelsüblichen Kategorisierungen sollte man gleich über Bord werfen. Denn wer kann sich heute, in einer Medienlandschaft voller Selbst- und Fremdinszenierungen, in der alles und nichts erfunden ist, schon noch wirklich anmaßen, die Wahrheit von der Lüge oder eben auch das Dokumentarische vom Fiktiven zu unterscheiden?

Der Wiener Rainer Frimmel und die Boznerin Tizza Covi steuern mit ihren gemeinsam entwickelten, finanzierten, geschriebenen, gedrehten, geschnittenen und in die Kinos gebrachten Filmen, die das Intime, aus dem sie gewachsen sind, nie ganz abschütteln können oder wollen, genau auf diesen Zwischenraum, also den eigentlichen Raum des Kinos zu.

La Pivellina ist ihre dritte gemeinsame Filmarbeit und nimmt den Faden auf, den ihre Dokumentation Babooska über eine italienische Wanderzirkusfamilie ausgelegt hat. Die stechend roten Haare der resoluten Patti (eine Erscheinung: Patrizia Gerardi) setzen sich vom grau-grauen Hintergrund der römischen Vorstadtsiedlung ab, in der sie ihren erneut entlaufenen Hund sucht – und auf einem Spielplatz ein verlassenes Kleinkind findet. Wie dieses fröhliche kleine Wesen den Mikrokosmos der Familie, die mit ihrem kleinen Zirkuszelt und ein paar einstudierten Nummern durch Italien tourt, verändert, wie die „Pivellina“ dieser liebevollen Zweckgemeinschaft neues Leben einimpft, das erzählt dieser Film.

Frimmel/Covi halten sich nicht damit auf, einen Trennstrich zwischen dem Dokumentarischen und dem Fiktiven zu ziehen: Ausnahmslos alle Darsteller sind Laien. Und die machen im Film genau dasselbe wie im Leben, also leben sie im Film. Die Regisseure suchen nach einer verlorengegangen Authentizität im Kino: nach Blicken, Gesten und Körperhaltungen, nach kleinen Nachsätzen und Geräuschen, die so nie nachzuspielen sind, die sich nur aus dem Moment ergeben können.

In „La Pivellina“ finden sie solche: wenn sich der 15-jährige Tairo (Tairo Caroli) in einer Wechselschicht mit Patti um die Kleine kümmert und seiner gleichaltrigen Freundin auf einer Parkbank erklärt, dass er deswegen im Moment keine Zeit für sie hat, darüber aber nicht traurig ist, sondern sich sogar freut auf die Stunden mit der „Pivellina“. Oder wenn Patti mit ihrem Zirkuskollegen Walter (Walter Saabel) durch die Gegend fährt, das Auto aber nicht wirklich unter Kontrolle hat. Oder wenn Walter mit Tairo einen spielerischen Boxkampf ausficht und es für ein paar Momente so aussieht, als seien sie wie alle anderen auch. Oder, wie man so schön sagt: „Das Normalste von der Welt.“

Das Zirkusleben, ein Leben im Durchzug, hat diese Menschen geformt. Frimmel/Covi fangen es gut ein, das Gefühl, dass jetzt alles anders wird, die schönen Momente mit dem kleinen Kind, die schleichende Sorge, die zur Gewissheit wird, dass ihre biologische Mutter irgendwann wieder kommen wird, um sie zu holen. Sie war, wie alles in ihrem Nomadenleben, nur eine weitere Station auf der langen Reise.

„La Pivellina“ rückzubinden an die Tradition des italienischen Neorealismus, als Regisseure wie Rossellini und Pasolini mit „echten“ Menschen und Schauspielern die Studiokulissen hinter sich gelassen haben und mit dem Kino auf die Straße gegangen sind, wäre zu hoch gegriffen. Dafür ist die Inszenierung zu unfokussiert, das niedliche Kind zu oft, das harte Leben zu selten im Bild. Sehr wohl darf und soll man diesen Film allerdings in Bezug setzen mit jenem organischen Realismus, den etwa die Gebrüder Dardenne international erfolgreich in „Rosetta“ oder „Le Fils“ formuliert haben. Mit Filmen also, die keine Entscheidung mehr treffen wollen zwischen wahrem und gestelltem Leben, die beides sein können und sich der Wirklichkeit des Kinos überantworten.

ZUR PERSON

Rainer Frimmel (*1971 in Wien) studierte Psychologie, Kunstgeschichte, war auf der Graphischen. Gemeinsam mit der Boznerin Tizza Covi produziert er heute Filme, u.a. die Dokus „Das ist alles“, „Babooska“. Ihr erster Kinospielfilm „La Pivellina“ läuft jetzt im Kino.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.11.2009)

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