Nur Russen kommen in den Himmel

Beim Champagner: Prinz (Evgeny Ratkov), Gräfin (Yuliya Vysotskaya) und SS-Offizier (Christian Clauß).
Beim Champagner: Prinz (Evgeny Ratkov), Gräfin (Yuliya Vysotskaya) und SS-Offizier (Christian Clauß).(c) SvetaMalikova / Thimfilm
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"Paradies" lässt drei Menschen beim Himmelreich vorsprechen: einen SS-Offizier, einen französischen Polizisten, eine exilrussische Widerstandskämpferin. Ein starkes - und fragwürdiges - Werk des russischen Regisseurs Andrei Kontschalowski.

Der Twist – wenn man es denn so nennen kann – kommt in Andrei Kontschalowskis jüngstem Film „Paradies“ schon nach 20 Minuten. Seine Hauptfiguren, die vor neutralem Hintergrund sitzend ihre Lebensgeschichte erzählen, sind längst tot. Jede von ihnen ist zur Zeit des Zweiten Weltkriegs umgekommen. Und jede hatte einen anderen Blick auf die Ereignisse.

Da ist der Franzose Jules, ein braver Ehemann und Vater. Er arbeitete bei der Polizei in Fresnes. Mit der Gestapo habe die nichts zu tun, betont er gegenüber seiner Frau. Bei Verhören wird zwar gefoltert – aber wie soll man sonst auch etwas rausbekommen aus den Widerstandskämpfern? Die Deutschen mochte er nie. Sollten sie den Krieg verlieren, wird man umdisponieren müssen – kein Problem für den opportunistischen Zyniker. Nur sein Sohn macht ihm Sorgen. Er sei so anständig, so ehrlich; keine guten Voraussetzungen fürs Fortkommen in einer Halsabschneiderwelt. Der Papa kann ihm aber nicht mehr helfen. Agenten der Résistance haben Jules im Wald per Genickschuss exekutiert.

Wiedersehen im Konzentrationslager

Auch Olga, eine Exilrussin mit adeligen Wurzeln, war für den Widerstand tätig. In ihrer Wohnung hielt sie zwei jüdische Kinder versteckt, wurde aber verraten. Mit Jules, der sie auf dem Revier ausgefragt hat, wäre sie fertiggeworden. Ein hochgezogener Rock, ein unzweideutiges Angebot, so ein Polizeipräfekt lässt sich schnell erweichen. Doch sein unerwartetes Ableben durchkreuzte den Plan. Und Olga landete im Konzentrationslager. Dort, in der Hölle, wirkt Helmut. Helmut Karl Otto Dietrich von und zu Axenberg, wie er stolz betont. Ein junger Idealist, der für die Sache der Nazis brennt. Seine Vorfahren kämpften fürs Vaterland, sein Großonkel war Nietzsches Cousin. Hitler wird ein Paradies auf Erden bauen, glaubt er. Und im Paradies darf es keine Korruption geben. Besonders dann nicht, wenn es um Menschenvernichtung geht, eine ernste Angelegenheit. Himmler persönlich gab Helmut den Auftrag, das KZ auf Unregelmäßigkeiten zu überprüfen. Dort trifft er Olga, und das weckt Erinnerungen. Vor Jahren hatten die beiden ein sommerliches Techtelmechtel in der Toskana. Helmut schätzt die russische Kultur. Besonders Tolstoi und Tschechow. Und Frauenfüße, wie er verlegen lächelnd gesteht. Vielleicht kann er an diesem Ort, der keine Liebe kennt, seine eigene wieder aufleben lassen?

Drei Nationen, drei Schicksale, drei Weltbilder – vertreten durch drei Menschen. In „Paradies“ darf jeder von ihnen rückblickend seine Sicht der Dinge darlegen, in einer Art Bewerbungsgespräch für das Himmelreich, das sich auch an den Zuschauer richtet. Es ist der Versuch einer großen Seelendeutung, einer Frage nach den Ursachen von Gut und Böse. Eine ungewöhnliche filmische Versuchsanordnung – intelligent angelegt, mit Bedacht ausgeführt und hervorragend gespielt (besonders Yuliya Vysotskaya als Olga und Christian Clauß als Helmut überzeugen). In Venedig erhielt sie den Regiepreis.

Kontschalowski, der vielleicht wandlungsfähigste Regisseur Russlands, setzt in seiner historischen Parabel auf einen reduzierten Stil. Statische, präzise gestaltete und stets ein wenig dezentrierte Schwarz-Weiß-Bilder, die stark an Pawel Pawlikowskis „Ida“ (2013) erinnern, verleihen den ausgedehnten Rückblenden eine entrückte Note, eine sonderbare Beispielhaftigkeit. Es geht um etwas Übergeschichtliches, etwas Spirituelles. Im Nebel des Waldes gehen Gespenster um. Und der Teufel ist auch zugegen: Bei seiner Begegnung mit Himmler spürt Helmut die Stickluft im dunklen Salon vibrieren.

Wende zum Nationalistischen

Worauf will das alles hinaus? Beim heute 79-jährigen Kontschalowski konnte man sich oft nicht sicher sein. Der aus einer einflussreichen Künstlerdynastie stammende Intellektuelle, Sowjet-Dissident und Tarkowski-Freund, der in den 1980er-Jahren eine Hollywood-Karriere hinlegte, ließ sich ideologisch nie festnageln. Im Unterschied zu seinem regimebegeisterten Bruder, dem Oscar-prämierten Filmemacher Nikita Michalkow, hat er sich oft kritisch über Putins Russland geäußert. Doch mit „Paradies“ macht sich eine Wende zum Religiös-Nationalistischen bemerkbar, die bereits das Vorgängerwerk „Die weißen Nächte des Postboten“ (2014) angedeutet hat.

Denn eigentlich ist schon zu Beginn klar: Olga ist die einzige reine Seele unter den drei Personen. Rechtschaffen, emotional, aufopferungsvoll – und dezidiert russisch-orthodox. Sie weiß gar nicht, warum sie Gutes tut, sie kann einfach nicht anders, es liegt in ihrer Natur. Explizit steht sie für alle Exilrussen, die sich in Frankreich dem Widerstand anschlossen. Implizit für jene 27 Millionen, die im Großen Vaterländischen Krieg ihr Leben gaben. Eine Heldin, die man sich als Patriot nur wünschen kann. Und die einem starken Film eine fragwürdige Schlagseite verleiht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.07.2017)

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