Cannes: Goldene Palme für japanisches Familiendrama

Jury-Präsidentin Cate Blanchett (Mitte) übergab Kore-Eda Hirokazu die Goldene Palm von Cannes.
Jury-Präsidentin Cate Blanchett (Mitte) übergab Kore-Eda Hirokazu die Goldene Palm von Cannes.APA/AFP/VALERY HACHE
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"Shoplifters" vom japanischen Regisseur Kore-Eda Hirokazu setzte sich gegen die Konkurrenz durch. Der Nimbus der Kino-Bastion an der Côte d'Azur beginnt langsam zu bröckeln.

Die Goldene Palme der 71. Filmfestspiele von Cannes ging an „Shoplifters“, ein feinfühliges Drama des Japaners Hirokazu Koreeda. Der auf Familiengeschichten und Erkundungen komplexer moralischer Fragen spezialisierte Altmeister porträtiert darin eine Solidargemeinschaft von Kleinkriminellen und Dieben, die ein obdachloses Mädchen bei sich aufnehmen. Was beginnt wie eine warmherzige Außenseiterstory enthüllt Stück für Stück seinen tragisch-sozialkritischen Kern. Somit ging der größte Preis des Filmfestivals wieder einmal an einen Mann – die Jury unter der Leitung von Cate Blanchett stellte aber sicher, dass die Frauen nicht leer ausgingen.

Die Sieger

Vier Trophäen wanderten im Laufe des Abends in weibliche Hände. Zuvor richtete Asia Argento einen leidenschaftlichen Appell ans Publikum, sexuelle Gewalt nicht mehr zu tolerieren: „1997 wurde ich hier in Cannes von Harvey Weinstein vergewaltigt. Ich war 21 Jahre alt. Dieses Festival war sein Jagdgebiet. Ich möchte eine Vorhersage machen: Er wird hier nie wieder willkommen sein.“ Und: „Wir wissen, wer ihr seid, und ihr werdet nicht mehr damit davonkommen.“ Es war auch eine Botschaft, dass das Festival, dem oft vorgehalten wird, ein Jungsklub zu sein, die Zeichen der Zeit erkannt hat.Goldene Palme: Für das berührende Familiendrama „Shoplifters“ des Japaners Kore-Eda Hirokazu
Großer Preis der Jury: „Blackkklansman“ von Spike Lee
Preis der Jury: „Carphanaüm“ von Nadine Labaki
Beste Schauspielerin: Samal Yeslyamova in „Ayka“
Bester Schauspieler: Marcello Fonte in „Dogman“
Beste Regie: Pawel Pawlikowksi für „Cold War“
Bestes Drehbuch: Alice Rohrwacher, Lazzaro Felice und Nader Saeivar „3 Faces“
Camera dòr für bestes Debüt: „Girl“ von Lukas Dhont
Palme d'or Special: Jean-Luc Godard „Le Livre d'image“
Bester Kurzfilm: „All these Creatures“ von Charles Williams

Hollywood-Konkurrenz. Es kann schwer sein, im besten Alter seine Gewohnheiten zu ändern. Das gilt auch für die Filmfestspiele von Cannes. Lange konnte kein Konkurrent dem Festival das Wasser reichen. In Cannes, heißt es nach wie vor, wird große Filmkunst hochgehalten wie nirgends sonst. In Wahrheit geht es mehr um große Namen. Jüngere schaffen es nur selten in den offiziellen Wettbewerb, er steht als einzige Festivalschiene im Blickfeld einer breiteren Medienöffentlichkeit. In den vergangenen Jahren wurde immer öfter Kritik an der „geriatrischen“ Hauptsektion laut. Ebenso wie an vielen anderen Aspekten des Festivals. Bislang musste man in Cannes darob nicht mit der Wimper zucken. Der Status war Schutz genug.

In Cannes wirkt jeder Film größer als anderswo – weil er hier gezeigt wird. Doch langsam beginnt der Nimbus der Kino-Bastion an der Côte d'Azur zu bröckeln. Gegen den Bedeutungsverlust der siebten Kunst ist auch sie nicht gefeit. Genauso wenig wie gegen den Strukturwandel des Kulturdiskurses. Die dominanten Themen an der Croisette waren heuer nicht die Filme, sondern #MeToo, Gleichberechtigungs-Initiativen, der Streit des Festivals mit dem Streaming-Giganten Netflix (der diesmal nicht zum Wettbewerb zugelassen wurde, weil er sich weigerte, mit dem französischen Online-Start seiner Produktionen drei Jahre zu warten) und die relative Absenz von US-Stars. Trotz „Star Wars“-Premiere lag die Frage in der Luft, ob Hollywood Cannes angesichts neuer Marketing-Methoden noch als Werbeplattform braucht. Darüber hinaus kämpft die Veranstaltung damit, junge Leute anzusprechen. Allgemein mutete die Besucherdichte der 71. Cannes-Ausgabe niedriger an als üblich, besonders gegen Ende. Der Filmmarkt, eine Stütze des hiesigen Rummels, hatte sich früh ausgedünnt. Interessanterweise war der Wandel auch ein Schwerpunkt des heurigen Wettbewerbs. Einige Beiträge sprangen durch die Perioden, um menschliche Auswirkungen sozialer Umwälzungen greifbar zu machen. Am originellsten im neorealistischen Märchen „Lazzaro Felice“ von Alice Rohrwacher. Darin geht es auf Basis eines realen Falls um ein italienisches Dorf, wo in den 1980er-Jahren noch feudale Verhältnisse herrschten.

Italien. Eine Großgrundbesitzerin nutzt dessen Abgeschiedenheit von der Außenwelt, um „ihre“ Bauern in Knechtschaft zu halten. Nur der junge Lazzaro (Adriano Tardiolo), eine reine Seele mit Heiligenantlitz, spendet Liebe und Hoffnung. Bis er aus Versehen eine Klippe hinunterstürzt. Jahre später wacht er unbeschadet auf, um eine veränderte Welt vorzufinden.

Seine gealterten Bekannten leben mittlerweile in der großen Stadt, wo statt Leibeigenschaft moderne Ausbeutungsmechanismen greifen – und Unschuldsengel keinen Platz mehr haben. Weniger parabelhaft, aber ebenso eindringlich erzählt der chinesische Kino-Chronist Jia Zhangke in „Ash Is Purest White“ von den rapiden Transformationen seines Heimatlandes – und zwar aus der Sicht der toughen Gangsterbraut Qiao (toll: Zhao Tao). Nach der Jahrhundertwende hofft sie mit ihrem Macker auf eine goldene Zukunft, die Stimmung ist dunkelromantisch und rauschhaft wie in einem Genrefilm. Dann muss Qiao ins Gefängnis. Als sie freigelassen wird, gehören ihr Geliebter, seine Verbrecherkollegen und ihre archaischen Wert- und Ehrvorstellungen der Vergangenheit an: China hat sich auf Kosten einer ganzen Generation zur wirtschaftlichen Supermacht aufgeschwungen. Indes schildert Paweł Pawlikowski in „Cold War“, dem episodischen Nachfolger seines Auslands-Oscar-Gewinners „Ida“, in stilisierten Schwarz-Weiß-Bildern das Scheitern einer Amour Fou an der politischen Eiszeit Europas nach dem Zweiten Weltkrieg: Ein ehrgeiziger Komponist und eine talentierte Sängerin aus der polnischen Provinz werden vom Strudel der Geschichte auseinandergerissen, die Begleitmusik liefern melancholische Volkslieder in wechselnden Klängen.

Südkorea. Ob sie es heute leichter gehabt hätten? Fragt man jene Wettbewerbs-Beiträge, die den globalen Status quo verhandeln, lautet die Antwort eindeutig: Nein. Die kraftvollste Artikulation eines Unbehagens an der Gegenwart stammt vom Südkoreaner Lee Chang-dong: Inspiriert von einer Kurzgeschichte Haruki Murakamis zeichnet sein düsteres, meisterlich inszeniertes Drama „Burning“ das Porträt des perspektivlosen Drifters Jongsu (Yoo Ah-in), der über eine alte Schulkollegin in den Orbit eines wohlhabenden Lebemanns gerät. Diesem eignet alles, was dem Verlierer fehlt: Geld, Erfolg, Selbstbewusstsein, Charme, Humor. Hat er vielleicht etwas zu verbergen? Sukzessive nähert sich der Film Thriller-Territorium, aber eine billige Auflösung bleibt dem Publikum verwehrt: Im Grunde ist „Burning“ eine Mediation über die (Un-)Möglichkeit von Gerechtigkeit in einer von Ungleichheiten gespaltenen Gesellschaft.

Es war nicht das einzige Cannes-Sittenbild umfassender Entwurzelung und Orientierungslosigkeit, bei denen junge Männer im Mittelpunkt standen – Männer, die nach Sinn suchen, Angst vor dem Verschwinden haben. Der US-Amerikaner David Robert Mitchell schickt Andrew Garfield im wunderlichen Genre-Mix „Under the Silver Lake“ auf Spurensuche durch ein Los Angeles voller Gauner und geheimer Popkultur-Botschaften. Sind wir alle Paranoiker? Geht man nach dem jüngsten Epos des türkischen Kino-Romanciers Nuri Bilge Ceylan, sieht es auf dem Land nicht viel besser aus: Hier kehrt ein Möchtegern-Autor in seine Geburtsstadt zurück, wo er in ausufernden Streitgesprächen gegen überkommene Gesinnungen aufbegehrt, sein Zynismus bietet keinen Ausweg aus der existenziellen Misere.

Allenthalben Schwermut und Resignation: Auch in „Le livre d'image“, der neue Filmessay des Nouvelle-Vague-Altmeisters Jean-Luc Godard, malte den Weltuntergang an die Leinwand. Utopien musste man hier an der Croisette suchen. Einige Filme schlugen aktivistische Töne an, probten den Widerstand. „En guerre“ von Stéphane Brizé breitet in ebenso langen wie lautstarken Verhandlungsszenen die Bemühungen einer Gewerkschaft aus, um die Schließung einer Fabrik zu verhindern. Vincent Lindon gibt den zeternden Wortführer, der am Ende ein drastisches Zeichen setzt, um Gehör zu finden – der Film versteht sich auch als Denkmal für Engagierte.

Den wütendsten Empörungsschrei lieferte der afroamerikanische Regieveteran Spike Lee mit dem Agit-Prop-Stück „BlacKkKlansman“, das auf einer wahren Begebenheit basiert: In den Siebzigern gelang es dem schwarzen Polizeibeamten Ron Stallworth (Denzel Washingtons Sohn John David spielt ihn), eine Abteilung des Ku-Klux-Klans zu infiltrieren. Was humorvoll beginnt, spitzt sich zu: Lee holt zu einer Rassismus-Anklage aus, die vom Polizeiapparat über den Neonazi David Duke (der in Österreich teilansässig ist) bis zum Stummfilmklassiker „Birth of a Nation“ reicht, um am Ende mit Aufnahmen des rechtsextremen Aufmarsches in Charlottesville an die Aktualität seiner Anliegen zu erinnern. „BlacKkKlansman“ ist unsubtil, aber genau das hätte man sich in Cannes öfter gewünscht: Während die meisten Filme hier der ungewissen Zukunft mit Bangen entgegenblicken, glaubt Lee noch daran, dass es sich für eine bessere zu kämpfen lohnt.

(APA)

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