„Vorsicht Sehnsucht“: Resnais, der ewige Revolutionär

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bdquoVorsicht Sehnsuchtldquo Resnais ewige(c) Filmladen
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Der 88-jährige französische Filmemacher erzählt in „Vorsicht Sehnsucht“ eine melodramatische Farce mit jugendlicher Frische. Ein surrealer Geniestreich.

Es beginnt ganz unverfänglich, mit Schwierigkeiten beim befriedigenden Kauf passend eleganter Damenschuhe und frohgemuter Erzählstimme: Während die noch über die Bedeutung der banalen Dinge sinniert, gerät sie ins Stocken. So einfach ist das alles nicht... Der Zuseher solle doch lieber selber sehen. Dann fliegt die Tasche mit den Schuhen auch schon durch die Luft (ein Bild, das im Verlauf des Films als angemessen schwereloses Leitmotiv wiederholt wird). Ein Raub, der Vorfall löst eine Kettenreaktion aus: Ein Mann mittleren Alters (André Dussollier) entdeckt die dabei entwendete Geldbörse, die Besitzerin weckt sein Interesse – sie ist Pilotin, er liebt das Fliegen –, die Rückgabe führt zu unbehaglichen Momenten. Alsbald hat sie ihn wie einen Stalker an den Fersen.

Die Idee der Amour fou nimmt der nunmehr 88-jährige französische Filmrevolutionär Alain Resnais in seiner melodramatischen Farce Vorsicht Sehnsucht beim Wort: Les herbes folles ist der Originaltitel, und unberechenbar wie die wilden Gewächse, die zwischendurch öfters in grünsprießender Großaufnahme durch den grauen Asphalt brechen, verhalten sich die Hauptfiguren. Dussolliers freundlicher Familienvater wirkt auf den ersten Blick wie ein schwermütiger Geselle – auch er hat eingangs ein Einkaufserlebnis, wird im Uhrengeschäft von Emotionen überwältigt, in denen sich sexuelle Erregung und die Ahnung der Sterblichkeit verwirrend überkreuzen. Überhaupt neigt Monsieur zu überbordenden Fantasien, in denen sich unvermittelt Abgründe auftun: Müßig sinniert er darüber nach, zwei Frauen, deren Geschmacklosigkeit ihm ein Dorn im Auge ist, zu erwürgen. In seiner Vergangenheit scheint so einiges nicht im Reinen, wie sich ganz nebenbei offenbart.

Hehre Obsession und offener Hosenlatz

Doch die fliegende Dentistin, der er nach eskalierendem Telefonterror sogar die Autoreifen zersticht, verhält sich nicht minder mysteriös: Sabine Azéma, unvermeidliche Muse des späten Resnais, provoziert nicht nur durch die Fasson ihrer feuerroten Finger-in-der-Steckdose-Frisur. Erst weist sie den konfusen Verehrer resolut zurück, dreht dann impulsiv den Spieß um. Der Pas de deux des Begehrens steigert sich in absurde Höhen, buchstäblich: Beim Grande Finale im Flugzeug sorgen das Aufeinandertreffen von hehrer Obsession und offenem Hosenlatz für einen unglaublichen Kurzschluss.

Als „Filmemacher der Imagination“ hat sich Resnais im „Presse“-Interview bezeichnet, und tatsächlich gehen der stets überraschende Handlungsverlauf und die ebenso erfinderische Erzählweise Hand in Hand: Seit seinem bahnbrechenden Langfilmdebüt mit Hiroshima mon amour im Jahr 1959 hat sich Resnais immer neuen kühnen formalen Experimenten verschrieben, im exakt 50 Jahre später vorgestellten siebzehnten Spielfilmopus geht er noch immer mit derselben jugendlichen Frische ans Werk, obwohl eine altersweise Melancholie für den Grundton unter den Eskapaden sorgt.

Eine Kamerafahrt durch die Wohnung durchmisst einen ganzen Tag, eine verblüffende Bemerkung löst eine Kaskade von Zooms in die Gesichter verdutzter Polizisten aus, Fantasien ziehen wie Comic-Sprechblasen vorüber, die stilisierten Farben (virtuose Kamera: Eric Gautier) evozieren indes vieldeutig die Geschichte(n) des Kinos, während die Geschichte von Vorsicht Sehnsuchtum den Einfluss von Erzählungen, von Filmen, Büchern, Musik auf das Leben kreist. Der selbstverständliche Surrealismus, den Resnais praktiziert, erreicht hier ganz unangestrengt einen Gipfelpunkt: Dieses genial verspielte Kunststück ist zugleich eine Tragödie vom Glück der Gefühle und eine verstörend heitere Meditation über den Tod.

ZUR PERSON

Alain Resnais (*1922, Varennes) ist eine der Schlüsselfiguren der filmischen Moderne: Mit Kurzfilmen wie „Nacht und Nebel“ (1955) und Langfilmen wie „Letztes Jahr in Marienbad“ (1961) revolutionierte er die Sprache des Kinos. Sein 17. Spielfilm „Vorsicht Sehnsucht“ läuft heute in Österreich an.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2010)

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