"Tag und Nacht": Recherche im Rotlichmilieu

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Sexarbeiterinnen leben gefährlich. Warum machen viele dennoch weiter? Eine Regisseurin wollte es für ihren Film "Tag und Nacht" genau wissen. Eindrücke einer Recherche.

Im Jahr 2008 fragte mich die Kamerafrau und Produzentin Eva Testor, ob ich bei „Tag und Nacht“ Regie führen wolle. Im Rahmen der Vorbereitungen für den Film trafen ich – und später auch Anna Rot und Magdalena Kronschläger, die in „Tag und Nacht“ Lea und Hanna verkörpern – mehrere Studentinnen, die als Sexarbeiterinnen in Escortservices gearbeitet haben oder arbeiten. Was treibt diese Frauen an?

Bei manchen ist es die Neugierde, der Reiz an der Grenzüberschreitung und der Wunsch nach Erlebnissen, die dem Leben Bedeutung geben. Manchen Frauen gefällt es, Dinge zu wissen, die andere nicht wissen. Sie beschreiben ein Allmachtsgefühl, wobei manchmal kindliche Missbrauchserlebnisse durchklingen. „Wenn man sich entscheidet, diesen Beruf auszuüben“, sagt eine der Frauen, „dann zieht man eine klare Grenze zur Vergangenheit. Es gibt keine Zukunft, man lebt im Hier und Jetzt. Man löst sich von seinem gewohnten Umfeld und taucht immer mehr in diese Welt ein.“

Ein halbes Jahr vor Drehbeginn treffe ich einen Berliner Escortservice-Betreiber. Seine Spezialität: „junge Studentinnen“. Vertraulich erzählt mir der Mann, dass es nicht einfach sei, Mädchen zu finden und zu „halten“. Wir unterhalten uns liegend – in einem der runden Betten in der kuscheligen Puffwohnung, die zu seinem Escortservice gehört. Er ist ein Bär von einem Mann. Ich finde ihn sympathisch.

Am selben Abend stellt sich Anna Rot, die Lea spielt, bei einem Kunden vor. Um zu wissen, wie sich das anfühlt. Sie behauptet, dass sie nächste Woche zu arbeiten beginnen wird. Dass wir für einen Film recherchieren, weiß er nicht. Der Kunde war ebenso nervös wie sie selbst, erzählt Anna später in der Billigküche, wo wir mit den anderen Mädchen abhängen, weil wieder einmal nichts los ist. Ein Chihuahua springt zwischen Gummis und Dekokitsch herum und kaut an den Fingern von „Daddy“. An den Spinden mit den aufgereihten High Heels hängt der Stundenplan, wo man sich einträgt.

Eine Woche später besuchen wir ein Escortservice in Wien. Das Büro befindet sich in einem Gemeindebau. Die Empfangsdamen sind mittleren Alters und tragen Rossschwänze oder schlampig hochgebundene Frisuren. Ihre korpulenten Körper haben sie unter gemütlichen T-Shirts versteckt. Die Stimmung ist herzlich und leger. Aus dem improvisierten Arbeitszimmer bleibt mir der Totenkopf im Aquarium in Erinnerung, um den Goldfische tanzen, während die Frauen die potenziellen Kunden am Telefon einlullen. Doch am meisten fasziniert mich die Lust, mit der sie die Mädchen überreden, die abartigsten Angebote anzunehmen.

Vorstellen und anfangen. Die Mädchen kommen aus dem Osten, sprechen gebrochen Deutsch. Sie arbeiten alle außer Haus. Wer sich vorstellt, füllt einen Fragebogen aus und kann am Abend anfangen. Die Fotos für die Homepage macht der Escort-Betreiber selbst. Sein Bruder, bis vor Kurzem Unternehmer, hilft ihm. Das Büro in dem 60er-Jahre-Bau ist noch „under construction“.

Mein Blick konzentriert sich auf eine Welt, dir mir als Frau sonst verborgen bleibt – oder die ich ignoriere. Im Internet finde ich klassische Stundenhotels, aber auch Hotelketten als „Geschäftspartner“. Bei Motivbegehungen entdecke ich Visitenkarten an Rezeptionen, die mir ohne diese Recherche nie aufgefallen wären.

In der Nähe meiner Wohnung haben sich zwei Sexarbeiterinnen in einem Lokal eingerichtet. Zuhälter sehe ich keine, dafür aber Männer, die auf dem Gehsteig Schlange stehen, bevor eine der Frauen sie im Bademantel aus dem hellen Tageslicht in ihre verdunkelte Arbeitsstätte holt. Frühmorgens sehe ich diese Frauen in hochhackigen Schuhen aus dem Wagen steigen – in ihren Einkaufskörben Megapackungen von Küchenrollen, die seither für mich ihre Unschuld eingebüßt haben.


Billiger als eine Geliebte. Ich spreche mit Männern, die die Dienste von Prostituierten in Anspruch nehmen oder genommen haben. Manche sehen es pragmatisch: Teurer Sex sei immer noch billiger als Wohnung und Geschenke für eine Geliebte. Andere schwärmen von der Wärme, vom Sich-fallen-lassen-Dürfen, von einem Freiraum, in dem man egoistisch sein darf. Wieder andere erzählen vom Schock, die eigenen Abgründe kennenzulernen – etwa wegzustecken, dass Frauen weinen oder zur Arbeit gezwungen werden. Nur der eigenen Bedürftigkeit zu folgen und die bezahlte sexuelle Dienstleistung einzufordern.

Trotzdem klagen Escortservice-Betreiber und Zuhälter uns gegenüber über massive Umsatzeinbußen wegen der Internetpornokanäle und wegen der „Laufhäuser“, die klassische Bordelle und Escortservice-Leistungen ersetzen. Nur mehr eine schmale, gut verdienende Klientel könne es sich erlauben, einen Abend lang in Getränke zu investieren, um sich „guten Sex“ zu leisten. Für alle anderen muss Sex schnell, unkompliziert und billig zu haben sein.

Manche Zuhälter behaupten, dass sich nur noch mit Zwangsprostitution Geld verdienen ließe. Sie erzählen von Terrainkämpfen in Berlin und in Wien. Inländer gegen Ausländer. Etablierte gegen frisch ins Land Drängende, die mit Preisdumping den Markt ruinieren.

In Wien treffen wir den „Chef“, der unter anderem die großen Etablissements am Gürtel besitzt und längst in Laufhäuser investiert. Er empfängt Drehbuchautoren auf Recherche, Filmcrews, die in seinen modern ausgestatteten und doch den früheren nostalgischen Glanz verströmenden Locations drehen wollen – und daher auch uns. Der „Chef“ kommt wie immer in Begleitung seiner Leibwächter. Er erzählt über seine Familie, über seine Isolationshaft auf einem anderen Kontinent, seine Vorbereitung auf den „Ironman“ und warum er lange schon vegan isst und Laotse liest. Die um die Stangen tanzenden barbusigen Frauen sind wunderschön und stammen aus allen Kontinenten. Trotzdem ist es auch an diesem Abend ungewöhnlich ruhig, und wir fragen uns, wie sich in diesem Geschäft tatsächlich noch Geld verdienen lässt.

Die »Madame« trägt Dirndl. „Mit Stammkunden.“ Das erzählen die Chefinnen von zwei Escortservices der Schauspielerin Martina Spitzer, die aufgrund ihrer Rolle vor allem in von Frauen geführten Einrichtungen in Wien und in Tirol recherchiert. Die Chefinnen sind schön, geschmackvoll gekleidet, eine von ihnen trägt ein Dirndl, und beide sind im Stress. Die „gestandenen Geschäftsfrauen“ gewähren Martina nur bedingt Einblick und immer sind Männer anwesend.

In einem etablierten Bordell in Innsbruck erzählt eine langjährige Sexarbeiterin, Martina, dass es auch im Sexgeschäft darum gehe, das Handwerk zu verstehen. Sie selbst sei beliebt und könne einem Kunden vermitteln, dass er etwas Besonderes sei, selbst wenn das Gegenteil offensichtlich ist. Das erfordere eine gewisse Begabung. Und die hätten halt nicht alle.

„Die Psyche eines erfolgreichen Zuhälters und eines Flugkapitäns sollten ähnlich gestrickt sein. Beide können in fast ausweglosen Stresssituationen ohne große Emotionen das jeweils Richtige tun“, resümiert Karl Fischer die Vorbereitung auf seine Rolle. „Was man sich an Zuhälterklischees so vorstellt, gab's eigentlich nicht. Einer war klein, untersetzt und unscheinbar, aufgefallen ist mir nur die leise, monotone Stimme, mit der er nach kurzer Zeit von recht brutalen Sachen erzählt hat.“
Auf die Uni statt zur »Arbeit«. Escort-Betreiber finden leicht Gründe, sich über ihre Mädchen zu ärgern. Oft erscheinen sie nicht zur Arbeit, weil sie zur Uni müssen, die Regel haben oder weil sie, wie ein Escort-Betreiber annimmt, „umsonst herumvögeln“. Wir hingegen vermuten, dass einige dieser Frauen den Absprung suchen.

„Wenn man aussteigt, muss man die Leere danach aushalten, man muss sich seine Werte neu strukturieren, bleiben ist einfacher als gehen“, erzählt eine der Frauen der Schauspielerin Magdalena Kronschläger (Hanna). Die Studentin, die Anna Rot in die Geheimnisse um ihre Arbeit eingeweiht hat, traut sich und brennt mit einem Stammkunden durch. Denn selbstverständlich gibt es junge Frauen, die hoffen, die Liebe in der Arbeit zu treffen, und auch Männer, die glauben, in der Sexarbeiterin die Frau fürs Leben zu finden. Was aber nur selten gelingt – und die Zuhälter aufregt. Überhaupt wird viel gestritten. „Die Rotlichtwelt ist wie eine Familie, in der alle in gegenseitiger Abhängigkeit leben. Misstrauen entsteht, weil alle in alle Arten menschlicher Abgründe schauen und letztlich niemand mehr irgendwem traut“, sagt einer.

Ich treffe einen Zuhälter aus der „alten Wiener Zeit“. Wir hatten uns als Kinder flüchtig am Strand in einem Jugoslawien-Urlaub kennengelernt. Er besitze noch immer das Quartett, in dem auf einer Karte mein Vater, ein Rennfahrer, abgebildet ist, sagt er. Wir sitzen in einer Studentenkneipe. Er lässt sich volllaufen und schwärmt von seinem neuen Mädchen.

14 Stunden später beschimpft er sie auf das Gröbste, weil sie ihm angeblich auf der Nase herumtanzt. Ich flüchte mich in die Betrachtung der Videoscreen auf der bröckelnden Wand seiner heruntergekommenen Bar. Da ist er in einem Porno zu sehen, in orgiastischer Vereinigung mit zwei Frauen.

Die zwei Burschen neben mir sind aus der Provinz angereist. An ihren Rucksäcken baumeln Plüschbären. Ob ich öfter hier wäre? Sie seien jedenfalls zum ersten Mal hier und wollten die „Sexszene“ erkunden. Der Zuhälter, der sich kaum mehr auf den Beinen halten kann, wittert ein Geschäft. Wie alle Zuhälter, die ich getroffen habe, will auch er mich verkaufen. „Berufskrankheit“, denke ich. Auch die Schauspielerinnen erzählten, dass alle Zuhälter sie animiert hätten, die Sexarbeit auszuprobieren.

Am Schluss eine lange Dusche. Was ist wohl der Reiz, Herrscher/Herrscherin in einem Spiel zu sein, das die Sexualität zwischen Frauen und Männern mit Geld regelt und dafür Omnipotenz verspricht? Während ich meinen Gedanken nachhänge, bemerke ich den Mann, der sich hinter dem Rücken des Zuhälters verborgen hält. Sein Hosenschlitz ist offen, sein Blick starr auf meinen Busen geheftet. Ich beschließe, die Recherche zu beenden. Zu Hause dusche ich länger als notwendig.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2010)

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