„Die andere Heimat“: Deutsche Träume von Brasilien

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Mit seinen „Heimat“-Serien schrieb Edgar Reitz TV-Geschichte. Sein bestechendes Kinoepos schildert jetzt das Leben im Hunsrück um 1840: trist und traumhaft.

Die Entstehung seines vierstündigen deutschen Historienepos „Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht“ verdanke sich auch einer brasilianischen Krankenschwester, hat Regisseur Edgar Reitz erzählt. Vor gut zehn Jahren hatte die Dame im nationalen Fernsehen eine Sendung über „Film in Deutschland“ gesehen, in der auch der mittlerweile 81-jährige Reitz als Veteran des deutschen Autorenfilms interviewt wurde. Danach schrieb sie dem deutschen Filmemacher. Er habe auffallende Ähnlichkeit mit ihrem Chef, der ebenfalls Reitz heiße: Ob sie wohl verwandt seien? Im Zuge der Korrespondenz schickte sie Reitz ein Buch: Die „Genealogie der Familie Reitz in Brasilien“, deren Auswanderervorfahren aus dem Hunsrück kamen.

Neue Dimension des epischen Erzählens

So schloss sich ein Kreis: Anfang der 1980er hatte Reitz mit der herausragenden TV-Serie „Heimat – eine deutsche Chronik“ der Hunsrück-Welt, aus der er kommt, ein Denkmal gesetzt. In elf Teilen und gut 15 Stunden erzählte Reitz das Leben einer exakt zu Anfang des 20. Jahrhunderts geborenen Bürgermeistertochter aus dem fiktiven Dorf Schabbach. Von 1919 bis 1982 folgte Reitz ihrem Schicksal und dem zahlloser anderer, die ihren Lebensweg kreuzten. Dem dörflichen Panorama gelang es, eine Jahrhundertgeschichte – und fast ein Jahrhundert deutscher Geschichte – in eine schlüssige wie emotional ansprechende Form zu bringen. Weit über die Landesgrenzen hinaus wurde „Heimat“ von Publikum und Kritik gefeiert.

Die Fernsehserie als große Romanform der Gegenwart: Was in der vergangenen Dekade vornehmlich wegen US-TV-Produktionen hochgejubelt wurde, ist eigentlich nichts Neues. Im Deutschland jener Ära waren es Veteranen wie Franz Peter Wirth, aber auch Vertreter einer engagierten jüngeren Regiegeneration wie Rainer Werner Fassbinder („Berlin Alexanderplatz“) und Reitz, die auf dem kleinen Bildschirm ein episches Erzählen entwarfen, das im Kino kaum Platz hatte.

Für Reitz wurde seine Saga zur Lebensaufgabe: Anfang der 1990er schilderte er in „Die zweite Heimat – Chronik einer Jugend“ noch ausführlicher und ambitionierter (25 Stunden!), wie die nächste Generation in der Aufbruchsstimmung der Sixties das kleine Schabbach hinter sich ließ. In „Heimat 3 – Chronik einer Zeitenwende“ führte Reitz nach einer weiteren Dekade das Personal der ersten beiden Serien zusammen, um die Zeit seit dem Mauerfall ins Auge zu fassen. Mit „Heimat-Fragmente – die Frauen“ schob er 2006 sogar noch einen zweieinhalbstündigen Film aus nicht verwendeten Szenen nach, der eher wie ein Anhängsel wirkte: Hatte Reitz nach verdienstvollen wie bewegenden 50 Stunden Heimat-Geschichte alles erzählt?

Offenbar nicht, wie nun „Die andere Heimat“ belegt. Diesmal geht Reitz aber zurück in der Geschichte, erzählt vom harten Leben in Schabbach zwischen 1840 und 1844, dem viele durch Auswanderung nach Amerika zu entkommen suchten. Und zwar – hier kommt die brasilianische Krankenschwester wieder ins Spiel – nicht nur in den Norden des fernen Kontinents, sondern auch den Süden: wie die Hauptfigur Jakob (Jan Dieter Schneider), Sohn eines Schmieds, besessen von Büchern. Anfangs werden Bilder eines Getreidefelds von Worten aus Jakobs Brasilienlektüre begleitet: Projektion eines Fernwehs.

Es ist Jakobs Sehnsucht, die der Untertitel des Films beschwört. Vor allem im ersten Teil lässt sich Reitz Zeit, um in traumgleichen Stimmungen zu schwelgen: Als Kinofilm funktioniert „Die andere Heimat“ unabhängig von den Serien und lebt von den bestechenden Breitwandbildern des Kameramanns Gernot Roll – schwarz-weiß mit gelegentlichen, symbolträchtigen digitalen Farbtupfern, in denen sich ein Rest der experimentellen Ansätze von Reitz zeigt, der in Zeiten des Oberhausener Manifests großartige abstrakte Kurzfilme über „Kommunikation“ oder „Geschwindigkeit“ drehte.

Werner Herzog als von Humboldt

Sonst zeigt sich Reitz aber als gelassener wie souveräner Erzähler: In mächtigen Tableaus und großen Szenenfolgen – ein ausuferndes Dorffest, die Inbetriebnahme der ersten Dampfmaschine – gestaltet er zwar eine triste Welt zwischen Missernten und Unterdrückung, hält ihr aber die Menschlichkeit seiner Figuren entgegen. Jakobs Freiheitsdrang trägt den Film, auch als seine Sehnsüchte systematisch scheitern: Seine große Liebe verspielt er aus Schüchternheit an den Bruder und als ihn nach interessantem Briefverkehr Alexander von Humboldt im Hinterland besucht, läuft Jakob kurzerhand weg in den Wald. Den berühmten Gelehrten spielt übrigens der deutsche Regie-Globetrotter Werner Herzog – und den Bauern, den Humboldt nach dem Weg fragt, spielt Reitz selbst: Wie sein Held Jakob ist er ein Daheimgebliebener, der doch die ganze Welt im Kopf hat.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.01.2014)

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