„Das radikal Böse“: Die ganz normalen Massenmörder

Dreharbeiten ´DAS BÖSE´ in Hanau vom 25. - 29. September 2012, Produktion docMovie, Darmstadt, Standfotografie: Christoph Rau
Dreharbeiten ´DAS BÖSE´ in Hanau vom 25. - 29. September 2012, Produktion docMovie, Darmstadt, Standfotografie: Christoph Rau(c) Filmladen
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Stefan Ruzowitzkys erste Dokumentation versucht, die Thesen von Holocaust-Forscher Christopher Browning zu bebildern. Dabei fehlt die Radikalität. Im Kino.

„Ich habe mich, und das war mir möglich, bemüht, nur Kinder zu erschießen.“ Dieser verstörende Satz war der Titel eines Spielfilmprojekts, das der deutsche Regisseur Romuald Karmakar seit Jahren nicht finanziert bekommt: Er stammt aus den Gerichtsprotokollen, die der renommierte US-Holocaust-Forscher Christopher Browning für sein bedeutendes Buch „Ganz normale Männer“ (1993) zusammengetragen hat. Brownings Studie über – so der Untertitel – „Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die ,Endlösung‘ in Polen“ befasste sich exemplarisch mit einer Einheit der NS-Ordnungspolizei, die während des Polen-Feldzugs im Weltkrieg in großem Maßstab an Massakern und der Deportation von Juden in KZs beteiligt war.

Browning analysierte darin, wie scheinbare Durchschnittsbürger, eben „Ordinary Men“, zu Massenmördern bzw. zur Mördermasse werden konnten: Denn das Reserve-Polizeibataillon 101 setzte sich nicht etwa aus fanatischen Nationalsozialisten zusammen – der Anteil der Parteimitglieder war gering, an der Spitze gab es einige SS-Offiziere.

Killer durch Konformitätsdruck?

Unter Rückgriff auf sozialpsychologische Versuche wie das Milgram-Experiment beschrieb Browning das Wirken von Konformität unter extremen Umständen: „Viele deutsche Polizisten befolgten die Befehle wegen des autoritären Drucks, doch wahrscheinlich konnten sie die Befehle auch vernünftig begründen, weil sie in der Atmosphäre des Dritten Reiches und während der Weimarer Republik grundlegende Vorurteile verinnerlicht hatten. Sie betrachteten die Juden und Bolschewisten als Feinde des deutschen Volkes... Für sie zählten Juden einfach nicht zur zivilisierten Menschheit.“ Eine Replik in Buchform kam vom US-Soziologen Daniel Goldhagen, dessen kontroverse Pauschalattacke „Hitlers willige Vollstrecker“ (1996) das Wurzeln des Holocausts in einem „eliminatorischen Antisemitismus“ postulierte, der spezifisch deutsch sei: in den Medien groß debattiert, in Fachkreisen heftig kritisiert.

So ist es sicher begrüßenswert, dass der österreichische Oscar-Preisträger Stefan Ruzowitzky in seinem ersten Dokumentarfilm „Das radikal Böse“ nach 20 Jahren an Brownings bahnbrechendes Werk erinnert, indem er dessen Fragestellungen in Bilder zu kleiden versucht: Was prägte die Menschen, die im Russland-Feldzug zwei Millionen Opfer verantworteten? Ruzowitzky interviewt Experten wie Browning, den US-Sozialpsychologe Roy Baumeister und den französischen Priester und Holocaust-Forscher Patrick Desbois. Auch Zeitzeugen erzählen Relevantes, vom ukrainischen Bürgermeister bis zu Benjamin Ferencz, dem Chefankläger des Nürnberger Einsatzgruppen-Prozesses 1947/8.

Beliebigkeit der nachgestellten Szenen

Aber Gespräche und interessantes Archivmaterial – bezeichnenderweise manchmal wie wahllos eingesetzt – gehen unter in der Flut einer Ästhetik, die derzeitigen TV-Standards einen kleinen Dreh verpasst: Reenactment, das Nachspielen von Szenen für Doku-Formate wie „ZDF-History“, geht Ruzowitzky quasi entdramatisiert an. Bekannte Darsteller wie Devid Striesow deklamieren Originalzitate aus Protokollen oder Briefen der Täter wie das eingangs erwähnte oder „Im Übrigen hat mir das Erschießen von Juden keinen Spaß gemacht.“ Dazu posieren junge Männer im Soldatenkostüm für die Kamera, manchmal entsprechend den verlesenen Stellen lächelnd oder aggressiv, dann wieder ganz ausdruckslos. Brechtisch?

Sie sollen eine Projektionsfläche bilden – einmal projiziert Ruzowitzky buchstäblich den NS-Propagandafilm „Der ewige Jude“ auf ihre Gesichter –, aber die Szenen werden rasch beliebig und redundant. Davon ablenken sollen dramatische Split-Screen-Effekte oder Patrick Pulsingers Elektro-Berieselung: Heraus kommt ein Schulfilm, mit fernsehhaftem Tapetenkleister angerührt. Die konzentrierte Ästhetik eines Claude Lanzmann habe zur Ära der lebenden Zeitzeugen gehört, es brauche neue Zugänge, sagt Ruzowitzky im Presseheft. Das ist mehr als diskutabel, aber sein problematischer Film belegt, dass die Annäherung an das radikal Böse auch eine radikale Ästhetik zu verlangen scheint. Romuald Karmakar hat das etwa mit „Das Himmler-Projekt“ gezeigt, sein Spielfilm über das Reserve-Polizeibataillon 101 war den Förderern zu radikal, Ruzowitzkys ORF-ZDF-Koproduktion hebt sich dagegen kaum von einem dubiosen Prime-Time-Geschichtsfernsehen ab, das mit Verstörung wirbt, ohne sie dem Publikum wirklich zuzumuten.

ZUR PERSON


Stefan Ruzowitzky (*1961, Wien) etablierte sich Mitte der 1990er mit Spielfilmen wie „Tempo“ und „Die Siebtelbauern“ als Regisseur, er inszeniert auch häufig Werbungen. Für sein KZ-Drama „Die Fälscher“ (2007) erhielt Ruzowitzky den Oscar für den besten fremdsprachigen Film. [ APA/Jaeger]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.01.2014)

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