"Nordwand" im Kino: „Ich hab vor gar nix Schiss“

(c) Filmladen
  • Drucken

Zur Verfilmung der spektakulären Eiger-Tragödie von 1936 und dem „Neuen Bergfilm“. Ein Einspruch.

Der Tod von Toni Kurz ist eine der spektakulärsten Tragödien in der Geschichte des Alpinismus: Der junge deutsche Gebirgsjäger startet am 18.Juli 1936 mit seinem Kameraden Andreas Hinterstoisser einen Versuch zur Erstdurchsteigung der Eiger-Nordwand. Der Schlüssel zum Aufstieg ist Hinterstoissers Technik des Seilzugquergangs: So kommt er über eine glatte, gut 30 Meter breite Platte und spannt ein Seil, an dem sich Kurz nachhangelt – wie die österreichischen Konkurrenten Edi Rainer und Willy Angerer, die zu den zwei Deutschen aufgeschlossen haben.

Das Seil zieht Hinterstoisser wieder ab – den von Wetter und Unglück gestoppten Alpinisten bleibt der Rückweg fatal versperrt.

Erst verletzt Steinschlag Angerer, woraufhin Zusammenschluss zu einer Seilschaft erfolgt. Nebel umhüllt die Wand, am 19. Juli erklimmt das Quartett nur 200 Höhenmeter, am 20.Juli erreicht es das „Todesbiwak“, wo im August 1935 die Münchner Karl Mehringer und Max Sedlmayr im Schneesturm umkamen. Angerers Zustand verschlechtert sich, erzwingt die Umkehr, ein Wettersturz folgt. Am 21.Juli schneit es dauernd, nach gefährlichem Abstieg durch rutschigen Neuschnee und Steinschlag erreichen die Vier den Quergang: unpassierbar – der Fels ist vereist. Also muss über eine 100 Meter hohe Wandstufe direkt abgeseilt werden, durch die Sturzbahn von Steinen und Lawinen.

Wenige Meter vor den Rettern gestorben

Ein Lawinenabgang wird den drei Begleitern von Toni Kurz zum Verhängnis: Ein Zahnradbahn-Streckenwart hört seine Hilferufe, Schweizer Bergführer kommen – und die Nacht. Die Hilfsaktion muss auf den 22.Juli verschoben werden. Doch die Retter erreichen Kurz nicht: 40 Meter vereistes Gebirge trennen sie vom völlig entkräfteten 23-jährigen Bergsteiger. Die letzte Chance: Er muss sich abseilen. Er braucht dazu von unten ein Seil. Zum Hochziehen dreht er eine Schnur aus den Litzen von Seilresten, drei Stunden lang: Seine linke Hand ist in der Nacht erfroren. Doch das Ersatzseil ist zu kurz, ein zweites wird daran geknotet. Am Knoten bleibt aber der Karabiner, an dem sich Kurz abseilt, stecken. Er ist zu schwach zur Entlastung, stirbt binnen Minuten, nur Meter von den Bergführern entfernt, doch unerreichbar. Seine letzten Worte: „Ich kann nicht mehr.“

Es ist unmöglich, von Kurz' Ringen mit dem Tod und der absurden Verkettung tragischer Umstände, die dazu führten, nicht berührt zu sein. Aber die deutsch-österreichisch-schweizerische Koproduktion Nordwand tut ihr Bestes, um es einem zu verunmöglichen. Regisseur Philipp Stölzl wird als Multitalent beschworen. Sein Talent stellt er hier in die Dienste der Eindimensionalität, wenn auch mit Multiverwertungsfunktion: Ein glatt poliertes Produkt für die sogenannte TV-Primetime, das davor dank medial aufgeheizten Interesses mit dem Mascherl „Neuer Bergfilm“ in allen Durchlaufstationen einer Verwertungskette reüssieren soll: Kino, DVD, Buch und Roman zum Film.

Mit der Wahrheit nehmen es Stölzl und seine Koautoren im Namen der Rührstückdramaturgie nicht immer so genau: Das wäre akzeptabler, fiele die Rührung weniger künstlich aus. In einfallsloser Schwarz-Weiß-Mechanik schleppt sich die Handlung zum eigentlichen Drama des tödlichen Abstiegs.

Toni Kurz' Tourenbuch und die davon geweckte Erinnerung seiner Geliebten dienen als erzählerischer Rahmen – der Erfolgsfilm Titanic lässt grüßen. (Die Assoziationskette Eis-Berg war wohl unwiderstehlich.) Kinostimmung kommt kurz dank einer UFA-Wochenschau auf: Der waghalsige Flieger Ernst Udet nähert sich „bis auf 20 Meter dem eisigen Gestein auf der Suche nach den bayerischen Berghelden“ – den 1935 gestorbenen Mehringer und Sedlmayr. Ein deswegen verhängtes Nordwand-Durchstiegsverbot kommentiert der Sprecher im gleichen zackigen Ton: „Als ob dieses Stück Papier die deutsche Jugend wirklich aufhalten wird!“

Auftritt der tragischen Helden: Toni Kurz (Benno Fürmann), Andreas Hinterstoisser (Florian Lukas) im Gebirgsfieber. Glücklich, die Hände aufgeschürft vom Üben des Seilzugquergangs. „Ich hab vor gar nix Schiss“, sagt der Toni. Nicht einmal vor der Eiger-Nordwand? Der Andi will Erster sein, die ganze Welt soll es wissen. „Darum geht es nicht beim Klettern“, widerspricht der Toni: Er tut es nur für sich. Dann gäbe es keinen Film. Also hat er es sich drei Szenen später überlegt: „Ich kletter' doch nicht nur für mich.“

Nahe läge da der Gedanke, dass auch für die Nazis geklettert wird, deren Propagandamaschine bergsteigerische Leistungen weidlich ausschlachtete. In diesem merkwürdig entideologisierten Film undenkbar. Nebenbei wird lässig etabliert: Die Gebirgsjägerbuben sind natürlich(e) Rebellen. Sie missachten den Zapfenstreich und müssen die Latrine der Kaserne putzen; die anderen Soldaten grüßen mit „Heil Hitler!“, die zwei Lauser antworten locker „Servus“. Für „Politik“ sorgt sonst ein zynischer urbaner Reporter (Ulrich Tukur), praktischerweise auch Widersacher des Naturburschen Toni bei dessen (erfundener) Freundin Luise (Johanna Wokalek).

Oben hält der entbehrungsreiche Kampf mit dem Berg die Alpinisten auf, unten führt der gelangweilte Journalist im Luxushotel mit einem österreichischen Industriellen (Erwin Steinhauer) Wortgefechte, die klingen, als hätte der Anschluss längst stattgefunden. Eine zweckmäßige Geschichtsverdichtung: Als im Juli 1938 eine deutsch-österreichische Seilschaft mit Heinrich Harrer die Nordwand bezwang, instrumentalisierten das die Nationalsozialisten als symbolischen Sieg im Geiste des im März erfolgten Anschlusses. Dafür wird des Industriellen geistesschlichte Vorzeigegattin (Petra Morzé) vorgeführt, damit: politische Indifferenz.

Rückzug in entpolitisierte Seifenoper

Den Stereotypen und ihrer banalen Gegenüberstellung folgt in der zweiten Filmstunde ebenso mechanische Spannungsdramaturgie: handwerklich sauber, aber alle Emotion entspringt der außerfilmischen Tragödie. Die zwischen Eisesschrecken beschworenen Gefühle bleiben so synthetisch wie die Konsensdrehbuchkonflikte und bereinigten Koproduktions-„Dialekte“. Regisseur Stölzl will mit simpler Konstruktion wohl wirklich an die Archaik alter Bergfilme anschließen: Er zitiert Pionierleistungen im deutschen Zwischenkriegsgenre durch Regisseure wie Arnold Fanck und Luis Trenker.

Deren heroische Naturhymnen dienten auch als Material für NS-Propaganda. Stölzls Todesdrama entzieht sich dem mit Rückzug in entpolitisierte Seifenoperndramaturgie: So fehlt auch die kinematografische Kraft, die den Bergfilm kennzeichnete. Trenkers Bergbilder beeindruckten mit stimmungsgeladenen Kompositionen und rhythmischer Präzision, Stölzl bietet nur pittoreskes Panorama. „Bilderbögen schöner landschaftlicher Hintergründe haben schon andere vor Dr. Fanck fotografiert. Aber seine Berge werden dramatisch, weil sie mitspielen in einem Spiel“, schrieb Béla Balázs 1931. Bei Stölzl ist nicht nur das Spiel abgekartet: Selbst wenn der Berg ruft, wäre das unter Christian Kolonovits' Kitschmusik kaum zu hören.

Nordwand folgt eigentlich dem Heimatfilm, der sich nach dem Krieg das Erbe des umstrittenen Bergfilms einverleibte, indem er dessen Heimatgefühl durch nostalgische Imitationen ersetzte. Damals wurde auf gesellschaftliche Desillusionierung reagiert, indem man durch triviale Schönfärbung verdrängte. Heute setzt Stölzl auf den Trend zum „Ungeschönten“, im Gefolge von Reality-TV und „authentischen“ Low-Budget-Erzählformen gern als Wirklichkeitsgarant missverstanden: Die Handkamera am Hang soll „dokumentarische“ Echtheit garantieren, kann den falschen Gefühlen aber nichts entgegensetzen. In der vom „Spiegel“ und anderen annoncierten Welle „Neuer Bergfilme“ steht Nordwand (fernseh-)formal wirklich in Nachbarschaft zu Pepe Danquarts Extremkletterer-Dokumentation Am Limit, die 2007 Speed Climbing als Selbsterfahrungs-Schnittgewitter in MTV-Manier präsentierte.

Material für die Kitschfototapete

Auch bei Stölzl ist der Wunsch nach physischer Kinoerfahrung im Gegensatz zu Hollywoods digitalisierten Bergen à la Vertical Limit spürbar: Zu Außenaufnahmen kommen Szenen, die unter extremen Bedingungen im Grazer Kühlhaus entstanden. Letztlich nur eine Kompensationsgeste: Wie das nivellierende „So war es“-Getue im Terroristenepos Der Baader Meinhof Komplex, wo penible Rekonstruktion in Manier populärer Dokudrama-TV-Formate das Vakuum füllen soll, das der Mangel an politischer Haltung und ästhetischer Vision produziert.

Ein dubioser Realitätsbegriff als naheliegender Rettungsanker für Kino im ideologiefreien Raum: beide Male gerade angesichts der Thematik bedrückend. In Johanna Wokalek – leidendes Liebchen hier, rücksichtslose Terrorfanatikerin dort – hat das neue televisionäre Trauerspiel für Großleinwände seine Galionsfigur gefunden: Sie schließt die Erzählklammer von Nordwand, in einer fernen Paraphrase auf Trenkers Meisterwerk Der verlorene Sohn von 1934, die bestenfalls als tränenselige Parodie zu verstehen ist. War der Kontrast von Bergen mit Wolkenkratzern in Trenkers teils radikal realistischem Film Ausdruck einer echten Erfahrung, so wirkt sie in Nordwand nur wie ein modischer Kunstgriff: Material für die Kitschfototapete. Und das ist die eigentliche Tragödie.

ZU FILM UND REGISSEUR

„Nordwand“ startet am 24. Oktober in den heimischen Kinos. Die deutsch-österreichisch-schweizerische Koproduktion basiert auf dem fatalen Erstdurchsteigungsversuch der Eiger-Nordwand im Juli 1936.

Regisseur Philip Stölzl (*1967, München), Sohn des christdemokratischen Politikers und Historikers Christoph Stölzl. Ausbildung als Bühnenbildner. 1997 Einstand als Regisseur mit dem Musikvideo zum Rammstein-Song „Du hast“. Für Rammstein drehte Philip Stölzl viele Videoclips (darunter „Stripped“, mit Bildern aus Leni Riefenstahls „Olympia“-Film), auch für Madonna oder Garbage. Ab 2000 inszenierte er vor allem Werbespots, 2002 sein Kinodebüt „Baby“. Stölzl arbeitete zuletzt öfter als Opernregisseur: etwa „Benvenuto Cellini“ von Berlioz bei den Salzburger Festspielen 2007. „Nordwand“ ist sein zweiter Spielfilm.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.