"Rückkehr in die Normandie": Geburt. Tod. Wiedergeburt.

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Der außerordentliche Fall des Mörders Pierre Rivière wurde erst von Michel Foucault wieder entdeckt, dann 1976 verfilmt. Nicolas Philibert folgt mit der exzellenten Dokumentation den Spuren.

Im kleinen Ort Aunay-sur-Odon in der Normandie ging am 3.Juni 1835 ein 20-jähriger Bauernsohn namens Pierre Rivière ins Haus seiner Mutter und ermordete sie mit einem Beil; dann tötete er damit auch seine Schwester und seinen Bruder. Beim Verlassen des Hauses erklärte der junge Mann einem fassungslosen Nachbarn, dass er nun seinen Vater endlich von all seiner Mühsal befreit habe. Es mache gar nichts, dass man ihn dafür töten werde.

Doch Pierre Rivières Verbrechen geriet zunächst in Vergessenheit, wohl auch, weil Elternmorde zu jener Zeit nicht ungewöhnlich waren: Frankreichs Gerichte verzeichneten im Schnitt zehn bis 15 im Jahr. Dabei war der Fall aber ganz außergewöhnlich: Denn für Rivières Prozess wurden erstmals psychiatrische Gutachten über die Zurechnungsfähigkeit des Mörders angefertigt (die Gutachter kamen übrigens zu völlig gegensätzlichen Schlussfolgerungen).

Entscheidender Moment für die Justiz

Vor seinem Selbstmord im Gefängnis verfasste Rivière Memoiren, in denen er seine Bluttat rechtfertigte, dabei eine unvergleichliche Studie bäuerlichen Lebens lieferte. In Nicolas Philiberts Dokumentarfilm Rückkehr in die Normandie heißt es darüber: „Ein Text von verblüffender Schönheit und Detailfülle, geschrieben von diesem Mann, den alle für einen Exzentriker oder Idioten hielten.“ Rivières faszinierendes wie irritierendes Bekenntnis wurde erst vom Philosophen Michel Foucault wieder entdeckt, der es 1975 samt Akten und Aussagen als ein Dossier herausgab, auf Deutsch erschienen als „Der Fall Pierre Rivière“. Foucault, der im selben Jahr seine große Gefängnissystemgeschichte „Überwachen und Strafen“ publizierte, sah in dem Fall nicht zuletzt ein Initialmoment für das Verhältnis zwischen juristischer und medizinischer Einschätzung.

Der französische Regisseur René Allio rückte bei seiner Verfilmung 1976 einen ganz anderen Aspekt in den Vordergrund. Allio wollte mit seinem bemerkenswerten Historiendrama Ich, Pierre Rivière, der ich meine Mutter, meine Schwester und meinen Bruder getötet habe (gemäß dem Originaltitel von Foucaults Buch) endlich die Menschen jenes Standes zu Wort kommen lassen, die niemals zuvor etwas zu sagen hatten hatten. Also ließ er die Bauern des 19.Jh. von lokalen Bauern spielen (aus einem benachbarten Dorf, der Tatort war schon zu modernisiert). Durch die authentischen Handgriffe und Redeweisen der Laiendarsteller sollte eine archaische Lebensweise erstmals im Kino spürbar werden. Ein unerfahrener junger Mann half als Regieassistent, um die geeigneten Schauplätze und Personen zu suchen: Nicolas Philibert.

Heute ist Philibert einer der renommiertesten Dokumentaristen Europas. Nach vielen Achtungserfolgen hatte er 2002 einen regelrechten Dokumentar-Hit: Sein und Haben,das Porträt einer idyllischen kleinen Dorfschule in der Provinz. Es gab jedoch ein unliebsames juristisches Nachspiel: Ausgerechnet der so altruistisch wirkende Schullehrer klagte Philibert auf Gewinnbeteiligung. Es ist also vielleicht kein Zufall, dass der Regisseur nun nach längerer Schaffenspause einen Film vorlegt, dessen provinzielle Spurensuche eine Art Balanceakt auf dem Grat zwischen Idylle und Schrecken ist.

Das Kino zu Besuch in der Provinz

Nach 30 Jahren (be)suchte Philibert nun für Rückkehr in die Normandie die Mitwirkenden aus Allios Film, der mit zahlreichen Ausschnitten anspielungsreich in Philiberts Beobachtungsmosaik eingewoben ist. Als Kontrast zur düsteren Rivière-Geschichte dienen unbefangene Interviews: Die Dorfbewohner scherzen über den einzigen Besuch des Kinos in ihrer Welt. Beiläufig wird jene Dialektik etabliert, die ein erst locker wirkendes Assoziationsgeflecht festigt. Philibert betreibt Feldforschung, aber macht auch Abstecher ins Gefängnis und zum Kopierwerk: Mehr noch als um die Kontinuitäten zwischen einst und jetzt geht es ihm um die Wechselwirkung von Film und Leben – was wie nebenbei ein einzigartiges Porträt der Prozesse des Filmemachens abwirft.

Engagement ist ein entscheidender Faktor. Eine Bäckerin hielt einst marxistische Monologe, jetzt organisiert sie Anti-Atommüll-Kundgebungen mit (das Catering erinnert auch an das Versorgen von Filmcrews). Allios Hauptdarsteller wurde gar Missionar auf Haiti, die lange ergebnislose Suche nach ihm betont die detektivische Seite dieses vielschichtigen Films. Einen philosophischen Aspekt des Kinos betont Philibert zuletzt, mit einer stillen, berührenden und zutiefst persönlichen Pointe: Filmemachen als Abschiednehmen, aber auch als ewiges Aufbewahren. Rückkehr in die Normandie beginnt mit Ferkeln, die auf die Welt kommen, zur Mitte wird ein Schwein geschlachtet. Das Ende schließt unerwartet den Kreis: Geburt. Tod. Wiedergeburt. Ab Freitag im Kino

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.11.2008)

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