Kritik Film: Dämmerung auf dem KZ-Gelände

Filmausschnitt
Filmausschnitt "Der Vorleser".(c) Senator
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Nur wenige starke Bilder in Stephen Daldrys Verfilmung von „Der Vorleser“. Für ihre Rolle als ehemalige KZ-Wärterin wurde Kate Winslet mit dem Oscar ausgezeichnet.

Wie Hanna Schmitz im reizlosen Kleid in ihrer kleinen Wohnung steht und auf die heiße Unterseite ihres Bügeleisens spuckt, das ist vielleicht der beste Moment in Stephen Daldrys Verfilmung von Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“.

Man versteht sofort, wieso der Knabe Michael die mehr als doppelt so alte Straßenbahnschaffnerin begehrt: Die für ihre Hanna mit einem Oscar ausgezeichnete Kate Winslet schafft den Spagat zwischen graugrauem Arbeiterklasse-Pragmatismus und Sinnlichkeit. Eine alleinstehende, autarke Frau im Nachkriegsdeutschland, die aus dem Keller Kohlen holen muss, damit sie es in ihrer Wohnung warm hat, die diesen schüchternen, gierigen Bürgerlichensohn (hervorragend: David Kross) in ihrer Badewanne wäscht, bevor sie sich lieben, bevor er ihr vorlesen muss. Aus Lessings „Emilia Galotti“ etwa, aber auch aus aus D.H. Lawrences Erotikklassiker „Lady Chatterley“, dessen anzügliche Passagen Hanna nicht hören will: weil ihre sexuellen Abenteuer mit dem „Jungchen“ dadurch einen ordinären Charakter bekommen.

Hanna lebt in ihrer eigenen Welt, kennt nur eine persönliche Wahrheit. Als diese Blase zu platzen droht, verschwindet sie aus der Stadt. Ihre Geschichte im „Vorleser“ ist eine wider die absolute Moral, befasst sich – obwohl Daldrys Adaption oft mit Holocaust-Filmen in eine Reihe gestellt wird – weniger mit dem Genozid als mit der Gesellschaftsbefindlichkeit nach dem Genozid. Wenn Hanna Jahre später wieder auftaucht, ihr als ehemaliger KZ-Aufseherin der Prozess gemacht wird, wenn Michael, nunmehr Jus-Student, ihr bei der Verhandlung zusieht, wenn also persönliche und historische Wahrheiten abgeglichen werden müssen, geht es nicht – wie im Groschenroman oder im Fernsehfilm – darum, ein Gerechtigkeitsempfinden zu befriedigen oder die Schuldigen bestraft zu sehen.

Die Täterin ohne Reue

Hanna ist zweifelsfrei eine Täterin, die ohne Wimpernzucken den Feuertod von Dutzenden KZ-Insassen mit angesehen hat, die das auch ohne Reue vor dem Gericht zugibt. „Was hätten Sie denn getan?“, fragt sie den Richter frech, aber aufrichtig; und der verstummt – wie alle anderen. Wenn die Schuldigen verurteilt sind, kann sich die Restgesellschaft weiterhin ihre Unschuld vorlügen.

Daldrys Film verweigert wie die Buchvorlage einfache Moralurteile. Und hat wohl auch deshalb in den Wochen vor der Oscar-Verleihung eine hitzige Diskussion ausgelöst. Kritiker warfen dem Film vor, NS-Verbrechen zu beschönigen und Holocaust-Revisionismus zu betreiben. Doch Friedensnobelpreisträger und Holocaust-Überlebender Elie Wiesel lobte den Film in höchsten Tönen.

„Der Vorleser“ hätte ein formidables Korrektiv zu all den Horrorkabinettstücken à la „Der Untergang“ werden können. Unter Daldrys konturloser Regie verkümmert die Vorlage aber zu beliebigem Ausstattungskino; getaucht in gesetzte Farben und mit dem historischen Gewissen im Nacken; ohne Druck, ohne Kraft. Behäbig werden die Handlungsstränge des Buchs auf die Leinwand gehievt, die flehentlich dramatische Filmmusik ist damit beschäftigt, die entstandenen dramaturgischen Leerläufe aufzufüllen. Ab und zu passiert ein starkes Bild, ein guter Moment, wie der, als Michael in der Morgendämmerung auf dem Gelände eines ehemaligen Konzentrationslagers steht. Was er fühlen will, sind Horror, Grauen, Ekel. Er will sich eine emotionale Grundlage für sein moralisches Urteil verschaffen, will Hanna begnadigen oder verurteilen können. Aber er fühlt nichts. Außer der unheimlichen Friedlichkeit des Orts. Die Tragödie der Nachkriegsgeneration.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.03.2009)

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