„Blue Ruin“: Der wilde Westen ist nicht vorbei

(c) Einhorn Film
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In „Blue Ruin“ von Jeremy Saulnier will ein Anti-Held den Mord an seinen Eltern rächen. Der Film zeigt, wie Gewalt und Selbstjustiz noch immer Amerikas Prärie beherrschen.

Die Eröffnungsszenen des kleinen, feinen US-Thrillers „Blue Ruin“ skizzieren nahezu wortlos ein Leben im Abseits Amerikas. Wir sehen einen Mann mit krausem Vollbart ein warmes Bad nehmen, doch er ist nicht bei sich daheim: Kaum sind die Hausbesitzer zurück aus dem Urlaub, stiehlt er sich durchs Fenster davon. Der ungebetene Gast heißt Dwight und ist ein Streuner, der sein Essen aus Müllsäcken auf Jahrmärkten wühlt und sich jede Nacht in einem schrottreifen Pontiac zur kurzen Ruhe bettet. Eine polizeiliche Mitteilung reißt ihn aus seinem tristen Trott – der Mörder seiner Eltern ist wieder auf freiem Fuß, und Dwight hat endlich ein Ziel vor Augen: Rache.

Doch unser mürber und innerlich zerrissener Anti-Held (angemessen unsicher gespielt von Toby-Jones-Lookalike Macon Blair) ist weder Rambo noch Dirty Harry, sondern ein ziemlich patscherter Durchschnittstyp, der mit zittriger Hand und ohne Plan in seine Vendetta hineinstürzt. Was ihn antreibt, ist nicht Blutdurst, sondern Trauer und Verbitterung. Die erste Gewalttat (auf einem Männerklo) ist eine chaotische Pannenserie, bei der Dwight prompt ins Visier des wenig zimperlichen Familienclans seines Opfers gerät. Kurz darauf rasiert er sich zwecks Identitätswechsel und wirkt mit seinem Büroangestelltengesicht noch harmloser als zuvor, doch die Vergeltungsmaschinerie ist bereits irreversibel in Gang gesetzt.

„Blue Ruin“ ist ein Herzensprojekt des jungen Regisseurs Jeremy Saulnier und seines befreundeten Hauptdarstellers. Saulnier, der hauptberuflich als Kameramann arbeitet (unter anderem für Indie-Hoffnung Matt Porterfield), hat den Film vornehmlich aus Eigenmitteln und über eine Kickstarter-Kampagne finanziert. Dass dieser schließlich in Cannes einen FIPRESCI-Preis gewann, kam für den bekennenden Genre-Fan mit Wurzeln im Splatterkino überraschend.

Waffen sind überall

Dabei reiht er sich mit seinem dramatisch-traumatischen Inhalt und der wohltemperierten Ästhetik – schwermütige Blautöne, sachte wie souveräne Kameraführung – durchaus in eine zeitgenössische Riege von Filmemachern ein, die versuchen, der Blut-und-Beuschel-Gattung einen seriösen Anstrich zu verpassen. Das Ergebnis ist sehr ansehnlich, aber trotz heftiger Brutalität irgendwie glatt und fransenlos, wie ein gezähmtes Wildtier.

Am effektivsten ist „Blue Ruin“ dann auch weniger in den Actionsequenzen als in den Ruhephasen zwischen den Stürmen, wo man eine schwelende, archaische Gewalt spürt, die gesellschaftlich nur notdürftig gebändigt worden ist. Selbstjustiz scheint in der suburbanen Prärie Delawares, wo der Film spielt, für alle eine Selbstverständlichkeit zu sein. Auf dem Papier mag Recht und Ordnung herrschen, unterschwellig läuft der ewige Western unverdrossen weiter. Ein Freund und Waffennarr, den Dwight um Hilfe bittet, bekennt freimütig, schon zwei Leute erschossen zu haben – mit Absicht. Selbst Dwights Schwester, die den Verlust ihrer Eltern psychisch besser überstanden hat als er und sich moralisch überlegen wähnt, kann ihre obszöne Lust an seiner Rache nicht verhehlen. Das alles erinnert an andere (und bessere) „heimliche“ Western der jüngeren Filmgeschichte, David Cronenbergs „A History of Violence“ etwa oder „Shotgun Stories“ von Jeff Nichols.

In dieser Hinsicht könnte man „Blue Ruin“ auch als Beitrag zur US-Waffenrechtsdebatte sehen: Die Allgegenwart von leichtem und schwerem Kaliber – Dwight braucht nicht lange zu suchen, um einen Revolver vom Beifahrersitz eines Autos zu klauen – befördert die tödlichen Fehden, die zum Alltag der ökonomisch verwahrlosten Kleinstädte gehören. Der (inszenatorisch etwas unbefriedigende) Showdown des Films ist eine klare Absage an dieses Faustrecht der Feuerkraft, das letztlich nichts als den Tod durchsetzt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.12.2014)

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