„Mommy“: Mutter und Sohn in der Enge

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Xavier Dolan stellt Figuren in ihrer ganzen Sperrigkeit vor: In „Mommy“, seinem fünften Werk, zeigt er wieder eine wunderbar facettenreiche Frauenfigur.

Es ist nicht gerade die feine Art, eine Figur vorzustellen: Nach einem Autounfall in der ersten Szene sieht man sie aus ihrem Wagen kriechen, eine Platzwunde am Kopf, Schock und Trotz im Gesicht. Mit der einen Hand greift sie zum Handy, während die andere mit erhobenem Finger ihrem Unfallgegner droht. Tatsächlich ist es wunderbar, eine Figur so kennenzulernen, fast wie wenn man als Zuschauer selbst mit ihr zusammengestoßen wäre. Man sieht sich augenblicklich konfrontiert mit den Widersprüchen dieser Frau, die gleichzeitig Verletzlichkeit und Kampfgeist ausstrahlt.

Wer unwissend im Film „Mommy“ landet, käme zunächst kaum auf die Idee, dass Diane (Anne Dorval) die Titelfigur ist. Mit ihr hat der 25-jährige Frankokanadier Xavier Dolan eine der schillerndsten Frauenfiguren des Kinos der letzten Jahre geschaffen. Sie entzieht sich jeder kategorisierenden Beschreibung. Sicher, ihre knappen Jeansjäckchen und ihre maulige Schlagfertigkeit lassen denken, sie sei aus dem Teenage nie herausgekommen. Doch stellt sich schnell heraus, dass die 46-Jährige sehr wohl weiß, dass sie keine 16 mehr ist. Auch wenn sie viele Lebensprobleme noch mit Flirten zu lösen versucht – was andere von ihr denken, ob Männer sie attraktiv finden, das ist ihr völlig egal. Diane hat größere Probleme. Das größte ist ihr Sohn.

Dieser Sohn, Steve (Antoine-Olivier Pilon), ist die lebendige Verkörperung des Wunsches, der zur Bestrafung wurde: 15 Jahre alt, groß, blond, blauäugig und nicht zu bändigen. Hyperaktivität, ADHS, die Worte fallen, aber Dolan interessiert sich nicht für ein Krankheitsbild, sondern für Personen und Beziehungen. In ähnlicher Weise war schon sein „Laurence Anyways“ kein Film über Transsexualität, auch wenn Laurence darin vom Mann zur Frau wurde. Dolan, der seine Drehbücher selbst schreibt, stellt Individuen ins Zentrum, in ihrer ganzen Sperrigkeit.

Die Bedrohte beruhigt den Rasenden

Als Diane ihren Steve zu Beginn des Films aus dem Heim holen muss, weil er dort gewalttätig wurde, wird der Zuschauer lautstark in das Mutter-Sohn-Drama eingeweiht. Es liegt etwas Unangemessenes in ihrem Umgang miteinander. Einmal gerät Steve über eine Kleinigkeit so in Rage, dass er seine Mutter fast erwürgt. Vor seiner Gewalt rettet sie sich in einen Kasten, aus dem heraus sie, die Bedrohte, den in seiner Raserei völlig Hilflosen beruhigen muss. Diese Szene zeigt Dolans besondere Stärke: Er inszeniert die Emotionalität seiner Figuren, ohne sich an ihrer Hysterie zu ergötzen, auch im lautesten Moment behält er ihre leisen Regungen im Blick.

Und dann kommen die Dinge für Diane und Steve gegen alle Wahrscheinlichkeit ins Lot. Ein wesentlicher Faktor dabei ist die Nachbarin Kyla (Suzanne Clément), eine weitere von Dolans wunderbar facettenreichen Frauenfiguren, rätselhaft und undurchschaubar und doch sehr real und handfest. Zuerst sieht man sie nur freundlich-sehnsüchtig herüberschauen zu Diane und Steve, aber eines Tages packt sie einfach mit an. Die frühere Lehrerin kann wegen einer psychisch bedingten Sprachstörung nicht mehr arbeiten. Die Kamera schwenkt einmal flüchtig über Familienbilder, die einen Sohn zeigen, den es offenbar nicht mehr gibt. Kyla muss nichts davon aussprechen, um mit Diane und Steve ad hoc einen Bund zu schmieden, drei Figuren, gleichberechtigt in ihren Beschädigungen.

Bis zu dieser Stelle hat Dolan seine Figuren im ungewöhnlichen quadratischen Bildformat gefilmt. Es passte, weil es die Beschränkungen, die manchmal allzu große Nähe zwischen Mutter und Sohn, den geringen Spielraum ihres Lebens bestens abbildete. Als mit Kyla aber die Dinge zu einer neuen, überraschend heiteren Ordnung finden, weitet sich das Format für Momente zum befreienden Breitbild. Es ist, als ob der Film tief einatmet. Aber dann verengt sich das Bild wieder, wie auch die Handlungsmöglichkeiten der Figuren. „Ich habe es getan, weil ich Hoffnung habe“, begründet Diane schließlich eine Tat, die für manche wie Verrat aussehen mag. Es ist ein Satz, der sich einbrennt. Nicht jeder wird die laute Ausdruckskraft dieses Films mögen, aber er wird niemanden kalt lassen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.12.2014)

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