"Der große Trip – Wild": Noch ein Egopflege-Gewaltmarsch

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Filmkritik. In „Der große Trip – Wild“ von Jean-Marc Vallée wird das weite Wandern einmal mehr als Metapher für den Hindernisparcours des Lebens strapaziert. Wild ist das nicht.

Wer den Pacific Crest Trail in Angriff nimmt, begibt sich auf einen der längsten Trampelpfade der Welt. Über 4000 Kilometer hinweg durchquert man zu Fuß den Westen Nordamerikas, passiert die Sierra Nevada und hat es erst dann offiziell geschafft, wenn man die kanadische Grenze erreicht. Kein Sonntagsspaziergang also: Solche Strecken sind entweder für Wanderer aus Leidenschaft oder Menschen, die im Wortsinne Abstand brauchen. Zu Letzteren zählt Cheryl (Reese Witherspoon, soeben in dieser Rolle für einen Oscar nominiert), die von ihrer Vergangenheit umgetrieben wird und sich den Gewaltmarsch als Brachialtherapie verschreibt; der Weg ist das Ziel und soll über Selbstfindung zur Selbsthilfe führen. „Der große Trip – Wild“ von Jean-Marc Vallée („Dallas Buyers Club“) basiert auf dem Erfahrungsbericht der Autorin Cheryl Strayed (der sprechende Nachname ist ein Pseudonym) und folgt seiner zähen Heldin von A nach B – aber mit etlichen Abschweifungen.

Zu Beginn wissen wir nur wenig über die angeknackste Hauptfigur, aber im Laufe der Reise lösen Gepäckstücke, die sie als Andenken mit sich führt, eine Reihe von blitzartigen Erinnerungsmomenten aus. Diese wachsen sich sukzessive aus und fördern so zutage, dass Cheryl eine ganze Schutthalde auf dem Herzen hat: Ihr liebender Ehemann hat sich von ihr getrennt, weil sie ihr Drogenproblem nicht in den Griff bekommen konnte, was wiederum mit dem angespannten Verhältnis zu ihrem Bruder und dem frühen Krebstod ihrer Mutter (eindringlich: Laura Dern) zusammenhängt, deren Gatte ein prügelnder Alkoholiker war. Es besteht also dringender Katharsisbedarf, und unter tausend Meilen geht da nix.

Slapstickhaft: Kampf mit dem Rucksack

Nick Hornbys Drehbuch wird nicht müde, die Wanderung als Metapher für den Hindernisparcours des Lebens zu bemühen. Erst kämpft sich Cheryl slapstickhaft mit einem Rucksack ab, der fast so groß ist wie sie selbst – das englische Wort „Baggage“ hat auch die Bedeutung emotionalen Ballasts –, später drückt buchstäblich der Schuh (was zu einem der plakativsten Product-Placement-Szenarios der jüngeren Kinogeschichte führt).
Die zunehmenden Wundmale an ihrem Körper sollen belegen, dass der Plan der Protagonistin aufgeht: No pain, no gain. Mitunter begegnen ihr Männer, die entweder Verlockung oder Bedrohung darstellen. In einer Szene, in der sie in tiefster Wildnis von bogenbewehrten Hinterwäldlern auf der Jagd belästigt wird, glaubt man kurz, der Film hätte sich ins ungastliche Territorium von John Boormans Camping-Thriller „Deliverance“ verirrt. Und obwohl man „Wild“ zugestehen muss, dass er darauf achtet, auch die unangenehmen Aspekte einer Exkursion dieses Maßstabs – Hygieneprobleme etwa oder die Haferbrei-Einheitsdiät – nicht auszublenden, lässt er sich kaum Zeit, die Erfahrung filmisch zu vermitteln. Stattdessen gibt es innere Monologe, die Cheryls Gefühle ausbuchstabieren (als würden die Rückblenden nicht ausreichen), während Kalendersprüche berühmter Autoren als erläuternde Überschrift vor jeder zweiten Handlungsepisode eingeblendet werden. Wer den Prozess des Gehens wirklich als existenziellen Trip im Kino durchexerzieren will, sollte sich „Gerry“ von Gus Van Sant zu Gemüte führen.

Die Kategorie des Egopflege-Urlaubsfilms, zu der „Wild“ gehört, bildet fast schon ein eigenes Genre. Dabei geht es um Menschen aus der Mittelschicht – meist sind es Frauen –, die auf mehr oder weniger einsamen und beschwerlichen Märschen Lebenskrisen überwinden oder Sinnsuche betreiben, und die Rückfahrt ist immer schon gebucht. Zuletzt schickte „Spuren“ Mia Wasikowska in die Wüste, und das wohl bekannteste Beispiel für dieses Erzählmuster ist der All-inclusive-Ausflug „Eat Pray Love“, auch eine Bestsellerverfilmung.

Im Grunde bietet „Wild“ eine Arthaus-Variante des erfolgreichen Julia-Roberts-Vehikels, die Hiking-Tour zu dessen Wellnesskur. Vallées Film ist zwar ein bisschen roher, dreckiger und ehrlicher als sein verkitschter Verwandter, bedient aber dieselben Sehnsüchte nach einer unverbindlichen Auszeit: Endlich die Seele baumeln lassen, Kraft tanken und mit belastenden Privatangelegenheiten abschließen! Etwas „Me-Time“, wie es in den USA heißt. Und nebenher vielleicht ein kleines Abenteuer – aber bitte nicht zu wild.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.01.2015)

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