„National Gallery“: Am Ende das Ballett der Gemälde

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Frederick Wiseman, großer alter Mann der Dokumentaristen, porträtiert die Londoner National Gallery. Ausführlich, teils berührend. Ab Freitag im Kino.

Können Bilder für sich sprechen? Diese Frage steht im Mittelpunkt von „National Gallery“, Frederick Wisemans epischer Dokumentation über die gleichnamige Londoner Gemäldegalerie. Die 1824 gegründete Kulturinstitution ist das britische Pendant zum Wiener Kunsthistorischen Museum: Ihre Hallen am Trafalgar Square beherbergen eine umfassende, prestigeträchtige Sammlung voller Meisterwerke europäischer Malerei (erst kürzlich war Velázquez' berühmte „Rokeby Venus“ als Leihgabe aus London im KHM zu bewundern) und richten sich unter dem noblen Banner „Bildung für alle“ an eine amorphe Öffentlichkeit. Wisemans Film präsentiert einen vielschichtigen Querschnitt durch die staatlich geförderte Einrichtung und fokussiert dabei vor allem auf die unermüdliche Vermittlungsarbeit der Museumsangestellten, die stets darum bemüht sind, dass den von ihnen gehüteten Schätzen angemessene Würdigung widerfährt – sofern sich die Maßstäbe einer solchen Würdigung noch nachvollziehen lassen.

Formal folgt „National Gallery“ Wisemans routiniertem Modus Operandi: Der 85-jährige US-Regisseur dokumentiert seit den Sechzigern das Gewebe der Gesellschaft, fertigt aus massiven Materialbergen differenzierte Tapisserien, die Einblick gewähren in den institutionellen Alltag des demokratischen Projekts und dessen kulturelle Ausläufer – ohne Kommentar, Interviews oder Zentralperspektive. Seine Systemporträts ufern des Öfteren aus: Mit knapp drei Stunden Länge gehört „National Gallery“ noch zu den kürzeren Studien des Doku-Veteranen, aber wie immer deckt der Film in zahlreichen Episoden so viele Facetten seines Untersuchungsobjekts ab, dass die Zeit beim Zusehen recht zügig vorüberzieht.

Hinter den Kulissen: Budgetdebatten

Wiseman gewährt fast allen Abteilungen der National Gallery einen Auftritt, im Archiv und in den Restaurationslabors bekommt man zu sehen und zu hören, welch ein Aufwand in die Aufbereitung der Kunstwerke gesteckt wird, während hinter den Kulissen der Schauräume prosaische Budget- und Marketingdebatten geführt werden. Aber am Ende dreht sich alles um Vermittlung: Wie erklärt man den Menschen, dass sie diese Kunst brauchen, zumal sie auf den ersten Blick nur wenig mit ihrer Lebensrealität zu tun hat? Wie bringt man ihnen das Betrachten bei? Und gibt es überhaupt einen „richtigen“ Blick auf die vornehmlich historischen und religiösen Sujets der alten Meister?

Sämtliche Mitarbeiter versuchen auf ihre Weise, bestimmte Aspekte der Exponate in den Vordergrund zu rücken und dem durchmischten Publikum zugänglich zu machen. Nachdrückliches Augenmerk legt der Film auf die vielen Guides, die Besucher jeglichen Alters mit unterhaltsamen Ausführungen für diverse Details der Bilder zu begeistern suchen; und obwohl man gerne lauscht, wenn eine besonders eloquente Führerin ihre humorvolle Exegese von Delilahs Gesichtsausdruck in Rubens' „Samson und Delilah“ darbietet, legt einem die Montage mit ihrer permanenten Gegenüberstellung widersprüchlicher Anschauungen doch nahe, diesen didaktischen, immerzu auf ein korrektes „Verständnis“ zielenden Zugang in Zweifel zu ziehen.

Metaphorische Kraft entfaltet besonders eine berührende Szene, die einen museumsinternen Kurs für Blinde zeigt, in dem präparierte Gemäldekopien ertastet werden: Letztlich entsteht das Bild im Kopf, die Vermittler können nur Gedankengänge öffnen – ob man hindurchgeht, bleibt jedem selbst überlassen. Es wird folglich nie gelingen, ein Werk ins rechte Licht zu setzen, es sei denn, man nimmt die Sache wörtlich: An einer Stelle entbrennt eine Diskussion um die adäquate Positionierung eines Tizians zur optimalen Farbwirkung unter prekären Beleuchtungsverhältnissen. Die Mehrdeutigkeit äußert sich auch in den unterschiedlichen Formen der Kunst, die von Kunst inspiriert wird – Wisemans Film, der dafür selbst ein schönes Beispiel darstellt, nimmt etwa das Poem einer bilderbeseelten Dichterin mit auf und stellt an seinen Schluss ein unwirkliches Ballett des Choreografen Wayne MacGregor, zu Ehren der Gemälde in den Galeriegemächern abgehalten. Selbst wenn sie stumm bleiben, zuschauen können sie bestimmt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.02.2015)

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