„Kind 44“: Ein Serienkiller in sowjetischen Wäldern

„Kind 44“
„Kind 44“(C) Concorde/ Larry Horricks
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„Kind 44“, eine Art Sowjet-noir, erzählt von verdrängtem Grauen in einem entlegenen russischen Arbeiterdorf. Das finstere Krimidrama à la „Mystic River“ bleibt schal.

Es gab eine Zeit, da waren englischsprachige Filme mit dem Schauplatz Sowjetunion keine Seltenheit. Während des Zweiten Weltkriegs rückten eine Handvoll Hollywood-Produktionen die alliierte Großmacht in ein dezidiert positives Licht. Gregory Peck kämpfte in Jacques Tourneurs „Days of Glory“ als heldenhafter Partisan Vladimir gegen die Nazi-Invasoren, mit „Mission to Moscow” entstand auf direkte Anweisung von Franklin D. Roosevelt und unter der künstlerischen Leitung von „Casablanca“-Regisseur Michael Curtiz eine mit sowjetischem Archivmaterial unterfütterte Apologie des Stalinismus, die selbst die Moskauer Schauprozesse für bare Münze nahm.

Der (verklärende) Blick nach Osten blieb eine historische Anomalie: Nach Kriegsende wendete sich das Blatt abrupt, als die Traumfabrik ins Visier des McCarthyismus geriet. Nun waren die „Roten“ die Bösen und die Studios versuchten, ihren guten Ruf mit antikommunistischer Propaganda instand zu halten. Seither sah man Blockbuster-Protagonisten aus der UdSSR nur noch sporadisch (unvergessen: Arnold Schwarzenegger in „Red Heat“).

Sowjetrussland, düster zugespitzt

Nun startet mit Daniel Espinosas „Kind 44“ eine Art Sowjet-noir in den heimischen Kinos. Der Film zeichnet ein äußerst düsteres und zugespitztes Bild Russlands unter der KPdSU, als politisches Statement war die Bestsellerverfilmung jedoch wohl nicht gedacht – weshalb sein kurzfristiges Vertriebsverbot durch das russische Kulturministerium im April Bände spricht über dessen Umgang mit Geschichte und ihrer medialen Repräsentation. Der zuständige Minister Wladimir Medinski ereiferte sich ausführlich über die Unzumutbarkeit eines ausländischen Thrillers, der „kein Land, sondern Mordor“ zeige (das Reich des bösen Sauron in „Herr der Ringe“, Anm.d.Red.), kurz vor dem 70. Jahrestag des Sieges im ,Vaterländischen Krieg‘“. Später versprach er, „Kind 44“ online zugänglich zu machen, man wolle ihn nicht „vor dem Volk verbergen“. Zensur bleibt Zensur, allerdings muss man dazusagen: Den russischen Kinobesuchern entgeht kein Meisterwerk.

Leo Demidov (Tom Hardy) macht 1953 in einem graubraun getünchten Moskau als Ermittler beim Ministerium für Staatssicherheit – dem Vorläufer des KGB – Jagd auf mutmaßliche Dissidenten. Als Lohn für seine Dienste genießt er die Privilegien eines Apparatschiks, doch bald gerät seine Frau Raisa (Noomi Rapace) ins Visier des Systems. Als Leo sich weigert, sie zu denunzieren, werden beide in ein entlegenes Arbeiterdorf versetzt, wo verdrängtes Grauen auf sie wartet: In den Wäldern tauchen Leichen kleiner Buben auf, Opfer eines ambulanten Serienkillers (angelehnt an den realen Fall von Andrei Tschikatilo, der „Bestie von Rostow“), dessen Morde schon in der Hauptstadt aus ideologischen Gründen vertuscht wurden. Das Ehepaar will den Verbrecher fassen, die Sache ans Licht bringen; jeder soll wissen, dass das Böse auch in Stalins angeblichem Paradies existiert.

Albtraumkindheit in der Ukraine

Das hört sich spannender an, als es auf der Leinwand erscheint. Die Handlung schleppt sich schwerfällig durch narrative Serpentinen (gefühlte zehn Mal fahren die Protagonisten mit dem Zug von A nach B und retour), punktiert von Reißbrettraufereien und mühseliger Exposition. „Kind 44“ will eigentlich ein finsteres Krimidrama à la „Mystic River“ sein und birgt durchaus interessante Ansätze: Der von Paddy Considine gespielte Mörder etwa ist als tragische Figur angelegt, dessen Albtraumkindheit in der Ukraine während der großen Hungersnöte ihn mit Leo verbindet. Die systemkritische Schlagseite erinnert an „Nachts, wenn der Teufel kam“. Allerdings steckt der Film fast all diese Gedanken in seinen Dialog, der plumper und trockener wirkt als ein Memorandum des Zentralkomitees.

Hardy und Rapace machen das Bestmögliche aus dem Material: Die komplexe, angespannte Beziehung zwischen der stoischen Raisa und dem hünenhaften Leo gehört zu den wenigen glaubhaften (und ungewöhnlichen) Aspekten der ganzen schalen Angelegenheit, bei der sich Gary Oldman und Vincent Cassel im Übrigen die Ehre geben, aber nicht viel mehr. Hardy steigt auch als Gewinner bei den Festspielen falscher Akzente aus, die von den Darstellern in der Originalfassung ausgetragen werden; keiner rollt seine R und härtet seine H so graziös wie er.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.09.2015)

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