„Unsere kleine Schwester“: Die leisen Töne des Lebens

Sie alle haben mit dem Verlust des Vaters zu kämpfen, spenden einander Trost: die vier Schwestern (von links nach rechts: Haruka Ayase, Suzu Hirose, Kaho, Masami Nagasawa) in „Unsere kleine Schwester“.
Sie alle haben mit dem Verlust des Vaters zu kämpfen, spenden einander Trost: die vier Schwestern (von links nach rechts: Haruka Ayase, Suzu Hirose, Kaho, Masami Nagasawa) in „Unsere kleine Schwester“.(c) Pandora Filmverleih
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Bezaubernde Impressionen: „Unsere kleine Schwester“ von Hirokazu Koreeda droht bisweilen, ins Sentimentale zu kippen. Doch die Natürlichkeit der Szenen berührt.

Geht es um Comicverfilmungen, denken die meisten wohl an Superhelden-Blockbuster: Batman, Spider-Man & Co. Das zeugt von nach wie vor verengten Vorstellungen in Bezug auf die künstlerische Bandbreite der neunten Kunst – dass auch Arthaus-Hits wie „Ghost World“, „A History of Violence“ oder der Cannes-Sieger des Jahres 2013 („Blau ist eine warme Farbe“) auf Comics basieren, wird gern übersehen. In Japan, wo Bildgeschichten einen höheren Stellenwert genießen, sind Manga-Adaptionen durch renommierte Autorenfilmer keine Besonderheit. Wobei sie wohl nur selten so im Einklang mit dem restlichen Schaffen eines Regisseurs stehen wie im Fall von Hirokazu Koreedas „Unsere kleine Schwester“.

Koreedas Arbeiten stellen oft die Frage, wie sich familiäre Gemeinschaften konstituieren, was ihre Essenz ausmacht und wie offen sie sind für Veränderung. Akimi Yoshidas Manga „Umimachi Diary“ hat ein ähnliches Thema: Es handelt von drei erwachsenen Schwestern, die einen gemeinsamen Haushalt führen. Bei der Beerdigung ihres von ihnen entfremdeten Vaters lernen sie ihre jugendliche Halbschwester kennen und nehmen sie bei sich auf. Koreeda, ein Meister leiser Töne und beiläufiger Beobachtungen, nutzt diese ungewöhnliche Konstellation zur behutsamen Erforschung zwischenmenschlicher Beziehungen unter vertrauten Fremden.

Als Zuschauer fühlt man sich bald wie zu Hause in dieser kleinen Welt. Die Szenerie der Küstenstadt Kamakura, wo das Haus der Geschwister steht, ist lauschig, luftig und licht, ein idealer Schauplatz für das Zusammenwachsen einander wohlwollender Figuren. Eine richtige Hierarchie gibt es nicht, jeder lernt von jedem. Sachi (Haruka Ayase), die strenge Älteste, arbeitet als Krankenschwester. Yoshino (Masami Nagasawa) ist im Vergleich locker und aufgeweckt, aber auch etwas orientierungslos. Und Chika (Kaho) erinnert in ihrer schrulligen Sorglosigkeit ein wenig an Phoebe aus der Serie „Friends“.

Die Halbschwester lebt sich ein

Die Sehnsüchte, Stärken und Schwächen der grundverschiedenen Frauen kommen in leichtblütigen Dialogszenen zum Ausdruck, Streitgespräche und Versöhnungen gehen Hand in Hand. Geteilter Alltag bildet hier den Grundstein von Gemeinschaft, Erinnerung ihren Kitt. Halbschwester Suzu (Suzu Hirose) lebt sich schnell ein, auch an der neuen Schule, wo ihr sportliches Geschick die Fußballmannschaft bereichert.

Das klingt alles reichlich undramatisch. Ist es auch. Das Leben besteht für Koreeda nicht aus großen Wendepunkten, sondern aus unmerklichen Verschiebungen der Weltwahrnehmung, die erst mit der Zeit ihre Wirkung offenbaren. So werden seine Filme oft mit denen von Yasujirō Ozu verglichen, dem Übervater erhabener Trivialitäten.

Gar zu sanfte Kameraarbeit

Aber Koreedas Zugang ist wesentlich weicher und wärmer als der Ozus. Die Kompromisszwänge des Lebens bergen für ihn stets die Möglichkeiten neuen Glücks. Diese Haltung brachte seine jüngsten Arbeiten bisweilen an die Schwelle zum Kitsch. Auch in „Unsere kleine Schwester“ droht die Aneinanderreihung von bezaubernden Impressionen trauter Viersamkeit manchmal, ins Sentimentale zu kippen. Die süßliche Musik Yoko Kannos und die etwas gar zu sanfte, beschauliche Kameraarbeit des Werbeprofis Mikiya Takimotos tragen nicht unwesentlich zu diesem Eindruck bei (Kulminationspunkt der Wohlfühlästhetik ist eine Radfahrt durch eine frühlingshafte Kirschblütenallee). Doch Koreeda streut genug Momente der Unsicherheit ein, um Überzuckerung zu vermeiden.

Letztlich haben die Schwestern alle am Verlust ihres Vaters zu nagen, obwohl sie es sich nicht eingestehen wollen. Jede geht auf ihre Weise damit um, alle spenden einander Trost. Die Natürlichkeit der Szenen, in denen unscheinbare Tätigkeiten die Welt bedeuten (ein Spaziergang am Strand, die Zubereitung eines überlieferten Gerichts, das gemeinsame Essen) berühren durchwegs – nicht zuletzt aufgrund der hervorragenden Chemie zwischen den Darstellerinnen. Und so viel hat Koreeda dann doch mit Ozu gemein: Am Ende geht das Leben einfach weiter.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.12.2015)

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