"Die Melodie des Meeres": Ein filmmusikalisches Wunderding

Saoirse und Ben sind die beiden Kinder des Fischers Conor und Hauptfiguren in dem behutsam gemachten Animationsfilm „Die Melodie des Meeres“.
Saoirse und Ben sind die beiden Kinder des Fischers Conor und Hauptfiguren in dem behutsam gemachten Animationsfilm „Die Melodie des Meeres“.(c) Polyfilm
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Der irische Zeichner und Geschichtenerzähler Tomm Moore lässt in seinem Oscar-nominierten, großteils handgezeichneten Meisterwerk „Die Melodie des Meeres“ Selkies, Mischwesen aus Mensch und Seehund, auferstehen.

Vor einigen Jahren geschah in Irland etwas, was bis dahin als absolut unmöglich galt: Wütende Fischer, die um ihre Existenz fürchteten, machten die Seehund-Population – und nicht etwa die industrielle Überfischung der Meere – für ihre schlechten Fänge verantwortlich und töteten etliche der Tiere.

Es war weit mehr als eine grausame Kurzschlussreaktion: Seehunde gelten in Irland seit Menschengedenken als heilige Tiere. Sie sollen die Seelen von Ertrunkenen beherbergen und wieder ans trockene Land zurückbringen. Die Tötung der Kreaturen steht im grellen Widerspruch zu folkloristischen Überzeugungen, nicht zuletzt, da viele Iren an die Existenz von Selkies, Mischwesen aus Mensch und Seehund, glauben.

Der begnadete irische Zeichner und Geschichtenerzähler Tomm Moore lässt in seinem Oscar-nominierten Meisterwerk „Die Melodie des Meeres“ diese magischen Wesen auferstehen. Vorwiegend handgezeichnet, erzählt der Film vom Fischer Conor (im Original von Brendan Gleeson gesprochen) und seinen zwei Kindern, die in einem kleinen Haus auf einer Insel leben. Die Mutter von Ben und Saoirse ist vor sechs Jahren verschwunden und hat nichts als eine Muschel zurückgelassen. „Hält man sie sich ans Ohr, dann hört man die Melodie des Meeres“, hat sie Ben immer gesagt. Als seine kleine Schwester in die Muschel bläst, findet sie, angeleitet von magischen Lichtern, noch eine weitere Hinterlassenschaft der Mutter: einen weiß leuchtenden Mantel aus Robbenfell, der sie in einen Selkie verwandelt. Nur eine solche Kreatur hat, wie die Kinder bald herausfinden, die Macht, die von der bösen Eulenhexe Macha in Stein verwandelten Fabelwesen zu erlösen und ihnen eine Rückkehr nach Tír na nÓg zu ermöglichen.

Den Film umweht etwas Ewiges

Von den ersten Minuten an umweht diesen Film etwas Ewiges; das Gefühl, dass man gerade eine Geschichte zum ersten Mal hört, die bereits lange Zeit in die Weltbefindlichkeit und das Kulturgedächtnis eingelassen ist. Regisseur Tomm Moore und sein Künstlerteam vom irischen Studio Cartoon Saloon nehmen Abstand von zeitgenössischer Trickfilmästhetik und setzen auf eine in die Tiefe geschichtete Flächigkeit, die nicht von ungefähr an detailreiche Illustrationen in Kinderbüchern erinnert. „Die Melodie des Meeres“ versteht sich selbst als eine zeitgemäße Kapsel, um Folklore weiterzugeben: Eine der Schlüsselfiguren der Geschichte ist ein verschrobener Seanachai, ein mündlicher Geschichtenerzähler, der tief in der irischen Tradition verwurzelt ist. In Moores Film haust er in einer versteckten Höhle, verborgen von den modernen Menschen, sein ganzer Körper ist von meterlangem Kopfhaar umsponnen. Der Seanachai bringt die Kinder auf die Spur der Hexe und damit dem Ziel ihrer Queste ein deutliches Stück näher.

„Die Melodie des Meeres“, unlängst mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet, rückt mit seiner pantheistisch untermauerten Naturmystik in die Nähe des Kinos von Studio-Ghibli-Gründer Hayao Miyazaki. Wie in dessen „Ponyo“ geht es um ein grundlegend symbiotisches Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt und um tradiertes Wissen in Form von Folklore, das in der hektischen, modernen Welt keinen Platz mehr findet. Eine weitere Parallele ist, dass sowohl Miyazaki als auch Moore in ihrem Kino ganz stark auf Musik als zusätzliches Erzählmittel setzen: Wie schon für seinen Erstling, „Brendan und das Geheimnis von Kells“ (2009), zeichnet jetzt auch für „Die Melodie des Meeres“ der französische Komponist Bruno Coulais verantwortlich, der dafür mit den Folk-Musikern Kíla und Singer-Songwriterin Lisa Hannigan zusammengearbeitet hat. Das Ergebnis ist eine einmal treibende, einmal melancholische, aber immer organische Komposition und ohne Zweifel eines der filmmusikalischen Wunderdinger des Jahres.

Mit „Die Melodie des Meeres“ positioniert sich Tomm Moore nachhaltig als einer der besten Geschichtenerzähler im Animationsfilm weltweit. Vollkommen unprätentiös und mit einer fast schon frühkindlichen Offenheit für Magie und Wunder entführt er in eine eigentümlich bekannt wirkende, unbekannte Welt aus Zeichen und Symbolen, Fabelwesen und Hexen: nicht nur einer der besten Trickfilme, sondern überhaupt eines der schönsten Kinoerlebnisse des Jahres.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.12.2015)

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