„Wer will Schauspieler schon reden hören?“

Elaborierte Bildsprache auch in stummen Komödien: Casanova-Geschichte „Der einfache Weg“ (1931).
Elaborierte Bildsprache auch in stummen Komödien: Casanova-Geschichte „Der einfache Weg“ (1931).Filmarchiv Austria
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Agonie und Blütezeit des Stummfilms: die Filmarchiv-Retrospektive „Last Silents“, bis 8. Jänner im Wiener Metro.

Der stumme Film war auf dem Wege, eine psychologische Differenziertheit, eine geistige Gestaltungskraft zu erreichen, die kaum je eine andere Kunst gehabt hat. Da brach die technische Erfindung des Tonfilms wie eine Katastrophe ein.“ So schrieb Béla Balázs in seinem 1930 veröffentlichten Buch „Der Geist des Films“. Drei Jahre zuvor hatte das sprechende Kino mit „The Jazz Singer“ seinen ersten großen Publikumserfolg gefeiert und einen Siegeszug angetreten. Doch die Skepsis gegenüber der akustischen Erweiterung war größer, als man meinen könnte. Abseits berühmter Fehleinschätzungen (ein kolportierter Ausspruch des Hollywood-Produzenten Harry Morris Warner: „Wer zur Hölle will Schauspieler reden hören?“) fürchteten Theoretiker wie Balázs eine ästhetische Verarmung. Die hart erarbeitete Bildsprache würde der einfachen Sprache weichen, bis nichts übrig blieb als gefilmtes Theater. Rudolf Arnheim brachte es auf den Punkt: „Der Stummfilm war, eben durch seine Stummheit, gezwungen, reizvoll zu sein.“

Aus heutiger Sicht mag das alles wirken wie verblendete Fortschrittsfeindlichkeit. Selbst Balázs und Arnheim revidierten ihre Thesen, als die künstlerischen Möglichkeiten des Tonfilms offenbar wurden. Aber angesichts der Filmarchiv-Retrospektive „Last Silents“, die bis 8. Jänner im Wiener Metro Kino läuft, kann man ihre ursprünglichen Bedenken durchaus nachvollziehen: Die Agonie des Stummfilms war vielleicht auch seine Blütezeit. Präsentiert werden Arbeiten, die weltweit nach der Audiowende entstanden, und ihr visueller Einfallsreichtum lässt das Gegenwartskino oft ziemlich alt aussehen.

Das gilt nicht nur für Kunst mit großem K wie Wsewolod Pudowkins unfassbares Sowjet-Ehedrama „Ein einfacher Fall“ (1932), bei dem jede Einstellung wirkt wie das in Stein gemeißelte Abbild einer ewigen Wahrheit. Auch Boulevardstücke schwangen zuweilen wilde Kamera-Pinsel: In einer tollen Szene von „Achtung Kriminalpolizei!“ (1929) vermittelt ein Mahlstrom aus Fahrten und Überblendungen, wie die Wände für eine Gefängnisinsassin immer näher kommen, und die finnische Casanova-Geschichte „Der einfache Weg“ (1931) beeindruckt mit Montage-Kollisionen zwischen Stadt- und Landansichten.

Tontechnik schränkte Experimente ein

Dass die formale Experimentierfreude des Kinos mit der Erfindung des Tons einen Dämpfer bekam, lag nicht zuletzt an der Sperrigkeit der neuen Technik, wie der Filmhistoriker und „Last Silents“-Kurator Stefan Drößler der „Presse“ erklärt: Die Mikrofonierung der Schauspieler und die nötige Schalldämmung schränkten die Bewegungsfreiheit der Kamera drastisch ein. Das beförderte einen statischen Stil, der auch der Betonung des Dialogs entgegenkam. Nicht alle hatten Lust, sich diesen Einschränkungen auszusetzen. Zu den berühmtesten Verweigerern zählte Charlie Chaplin, dessen Meisterwerk „City Lights“ sich noch 1931 auf einen Musiksoundtrack mit Toneffekten beschränkte. Die hatten es dafür in sich: Mit quiekenden Leierstimmen parodiert die legendäre Eröffnungssequenz des Films pompöse Ansprachen ebenso wie die miserable Qualität früher „Sprechfilme“.

Dennoch wurde die Durchsetzung der Technik von der Kinoindustrie eifrig vorangetrieben – schließlich ging es um die sprachliche Vorherrschaft auf dem Weltmarkt. Während der Paradigmenwechsel in Russland und Asien länger dauerte (der jüngste Film der Schau, das sowjetische Sci-Fi-Wunderding „Kosmische Reise“, stammt aus dem Jahr 1936), waren Europa und Amerika schnell „volltönend“. Um im Zuge der Umstellungsphase (Export-)Verluste zu minimieren, kamen einzelne Filme trotzdem in Stumm- und Tonfassungen heraus, darunter auch ein Musical (!) von Ernst Lubitsch. Das funktioniert, so Drößler, auch ohne Songs erstaunlich gut.

(Print-Ausgabe, 12.12.2016)

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