Sterben ist schrecklich. Familie noch mehr?

Einfach das Ende der Welt
Einfach das Ende der Welt(c) Weltkino
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In „Einfach das Ende der Welt“ kehrt ein schwerkranker Jungautor heim zu seiner dysfunktionalen Familie: Das in Cannes preisgekrönte Kammerspiel ist blendend gespielt und virtuos inszeniert. Allerdings auch virtuos epigonal.

Wie ein Gott wird er empfangen, der aus der Ferne kommende Louis. Zumindest eine Art Halbgott ist er ja auch – für Mutter, Bruder und Schwester, die in der Provinz geblieben sind, während Louis zwölf Jahre in der großen Pariser Welt war, dort berühmt wurde und nie seine Familie besuchte. Eigentlich will der 34-Jährige dieser nun erzählen, dass er schwer krank ist und bald sterben wird, will seinen Frieden machen. Daraus freilich wird nichts.

„Ce n'est pas la fin du monde“, „das ist nicht das Ende der Welt“ – so lässt sich im Französischen ausdrücken, dass ja alles nicht so schlimm sei, ähnlich unserem „Davon geht die Welt nicht unter“. Als der Schriftsteller Jean-Luc Lagarce in Berlin ein Stück über die Rückkehr eines sterbenskranken jungen Schriftstellers in seinen Heimatort schrieb, kehrte er die Redewendung ins Gegenteil, behielt jedoch ihre abwinkende Geste. Ist ja nur das Ende der Welt, verkündet der Titel „Juste la fin du monde“: Gemeint ist das Kaff, in dem Louis aufgewachsen ist, aber auch das nahe zeitliche Ende seiner Welt. Lagarce schrieb das Stück 1990 im Wissen um seine Aids-Erkrankung, und starb fünf Jahre später. Heute zählt er in Frankreich zu den vielgespielten neueren Theaterautoren, und sein Stück „Juste la fin du monde“ wurde nun auch als Film begeistert aufgenommen. Dieser erhielt 2016 beim Festival in Cannes die zweithöchste Auszeichnung, den Grand Prix der Jury.

Xavier Dolans Anti-Familienfilme

Dass den Filmregisseur Xavier Dolan der Stoff interessiert hat, verwundert nicht. Familienkonflikte, Nichtakzeptanz und Homosexualität ziehen sich durch die Filme des erst 27-jährigen Frankokanadiers, von „Ich habe meine Mutter getötet“ bis hin zu „Sag' nicht, wer du bist!“ und „Mommy“. Sein neuer Film ist ein ganz auf Gesichter und Dialoge fixiertes und doch bilderstarkes Kammerspiel in hochkarätiger französischer Besetzung: Der für diabolische Rollen ideale Vincent Cassel ist Louis' wortkarger und eifersüchtiger Bruder Antoine, Marion Cotillard dessen verängstigte Frau. Nathalie Baye spielt mit grellblau lackierten Fingernägeln und dicker Schminke die um Contenance und Familienfrieden bemühte Mutter, die bei aller Lächerlichkeit auch Würde hat. Und Léa Seydoux ist Louis' jüngere Schwester, die unter dem Weggang ihres Bruders offenbar besonders unmittelbar leidet und sehr verloren wirkt.

Virtuos wird der Zuseher schon in den ersten Minuten, die die Familie im peinlich altmodischen Vorzimmer auf Louis (Gaspard Ulliel) wartend zeigen, in die dunklen Räume dieses dysfunktionalen Mikrokosmos geschubst. Den stilisierten Dialogen merkt man das Theaterstück an, sie erinnern unter anderem an Ingmar Bergman und Tschechow. Auch biblische Brudermythen klingen an, von Kain und Abel, vom verlorenen Sohn. Die verhüllt ausgesprochenen Vorwürfe der Daheimgebliebenen – dass Louis die Verantwortung von sich geschoben, die Familie (ohne Vater) allein gelassen hat – heizen den Film an wie eine schwelende Glut. Die stärksten Szenen spielen sich dabei zwischen Louis und seinem aggressiv eifersüchtigen Bruder ab. Antoine scheint Louis und überhaupt alle am stärksten abzulehnen, und doch ist er es, der am Ende des Films in einem Anfall von Selbstlosigkeit alles tut, um Mutter und Schwester zu retten.

Die Perfektion des Déjà-vu

Ein psychologischer Film ist „Einfach das Ende der Welt“ trotz seiner Konzentration auf die Figuren nicht, die Charaktere behalten etwas Rätselhaftes. Es geht auch nicht in erster Linie um sie, sondern um ein Anti-Familienerlebnis: um die Ausweglosigkeit Louis', der die Familie sucht, aber nicht ertragen kann und von ihr auch nicht gehört wird. Einsam muss er von dannen ziehen und zur Kenntnis nehmen, dass er „nirgends, ach! zu Haus“ ist. Diese Stilisierung des leidenden Helden gibt der Perspektive des Films auch etwas Herablassendes, so sehr er vorgibt, seine Figuren ernst zu nehmen.

Dazu kommt, dass trotz oder gerade wegen seiner Perfektion etwas zu fehlen scheint. Hat man nicht das alles schon ähnlich irgendwo gesehen – die Familie als Sehnsuchtsort und Hölle zugleich, die Unfähigkeit zur Kommunikation, die Einsamkeit des Individuums et cetera? Xavier Dolan spielt hier abgeklärt und altklug auf der Klaviatur des bereits Vorhandenen. Er lässt an junge frühreife Künstler à la Hugo von Hofmannsthal denken, die meinen, alles schon verstanden zu haben, und geborgte Gefühle mit den eigenen verwechseln. Das hat aber auch mit dem Stück zu tun. Nicht umsonst ist es in französischen Schulen sehr beliebt: Hier lässt sich alles irgendeiner Tradition zuordnen und wirkt trotzdem neu. Xavier Dolans Film „Einfach das Ende der Welt“ ist zweifellos virtuos – aber auch so virtuos epigonal, dass man sich am Ende fast ein bisschen betrogen fühlt.

(Print-Ausgabe, 02.01.2017)

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