Film: Leo Tolstoi, Superstar

(c) AP (Stephan Rabold)
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Michael Hoffmans „Ein russischer Sommer“ kreist erfolgreich um die Spannung zwischen der Ikone vom Asketen und der privaten Lebenslust des Dichters.

Das Tolstoi-Land liegt etwas außerhalb der Großstadt Tula und heißt Jasnaja Poljana: In dem herrschaftlichen Anwesen wuchs Leo Tolstoi auf, hier verbrachte er sein ganzes Leben, in dieser Erde liegt er begraben. Längst ist das Idyll mit seinen dichten Wäldern und saftigen Wiesen ein Touristenmagnet: Im Tolstoi-Museum soll man erleben, wie der Autor gelebt, gegessen und geschlafen hat, im angeschlossenen Souvenirladen kann man eines seiner Werke kaufen und im nahe gelegenen Tolstoi-Hotel lesen.

In Michael Hoffmans Ein russischer Sommer begegnet man dem Schriftsteller und Philosophen in legendenuntauglicherer Weise (obwohl der Film am Originalschauplatz gedreht wurde): In weitem Hemd und weiten Hosen, den grauen Rauschebart großväterlich bis zur Brust, schließt er (gespielt vom großartigen Christopher Plummer) den 23-jährigen Tolstoianer Walentin Bulgakow (herrlich unschuldig: James McAvoy) in den Arm, was diesem Glückstränen in die Augen schießen lässt. Superstar Tolstoi als bester Freund. Regisseur Hoffman, eine eigentümlich bildungsbürgerliche Hollywood-Randfigur, schrieb das Drehbuch nach Jay Parinis biografischem Roman „The Last Station“ (das ist auch der englische Originaltitel des Films: gemeint ist Tolstois Tod im Bahnhof von Astapowo). Daraus ergeben sich auch diverse künstlerische Freiheiten im Umgang mit des Literaten Vita: Vor allem zu Beginn beherrschen die (noch) kleinen Scharmützel zwischen Lev und seiner langjährigen Ehefrau Sofia (schnippischer als The Queen: Helen Mirren) die Leinwand und verleihen dem „russischen Sommer“ die Leichtigkeit einer Ehekomödie.

Die gewachsene Beziehung zwischen beiden spiegelt sich in den aufkommenden Gefühlen Valentins wider: Der will sich der orthodoxen Auslegung von Tolstois Philosophie durch dessen Freund und Schüler Tschertkow (Paul Giamatti) ergeben. Er bekommt seine Emotionen aber nicht ganz in den Griff, als die rehäugige, burschikose Kommunardin Mascha zum ersten Mal neben ihm einen Holzscheit zerteilt.

Ein russischer Sommer kreist über zwei Drittel der Laufzeit durchaus erfolgreich um zwei Pfosten: den privaten Tolstoi, der in der launischen, aber herzlichen Baronin Sofia seine Lebenspartnerin gefunden hat – und den öffentlichen Tolstoi, der vom ehrgeizigen Tschertkow zur Ikone stilisiert wird. Der Schüler will ihn auch dazu bewegen, sein Gesamtwerk den breiten Massen unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. Denn „Tolstoi gehört ganz Russland!“. Eine Gemeinnützigkeit, die Sofia nicht gutheißen kann, die Familie muss schließlich finanziell fortbestehen, wenn ihr um einiges älterer Mann einmal von ihr gehen sollte.

Befreiende Hahnenschreie

Hoffmans Film ist eine konventionelle Biografie, bestückt mit schmucken, schnell wiedererkennbaren Gesichtern und eindeutigen Charakteren. Aber innerhalb der Genrekonventionen (große Bilder, Streichermusik, das Filmende ist der Tod Tolstois) erkämpft sich Hoffman große Freiräume: Sein hervorragendes Schauspielerensemble verleiht der drohend tragischen Geschichte die notwendige Alltäglichkeit, das gute Drehbuch balanciert erfolgreich zwischen Biografie und daraus abgeleiteten Themen. Anders als seine Werke ist der Film-Tolstoi leicht zugänglich: Wenn Lev und Sofia im Bett liegen und Hahnenschreie imitieren, zerfällt die Ikone vom asketischen Literaten, dann hat Tolstoi wieder Luft zum Leben. Oder, wie es in „Krieg und Frieden“ heißt: „Alles, was ich weiß, weiß ich nur, weil ich liebe.“

TOLSTOI: Bruch in Person

Leo (oder auch: Lew) Tolstoi, 1828 in eine russische Adelsfamilie geboren, verwaiste früh, biografisch (mit neun Jahren) und in der Orientierung: Er blieb kein traditioneller Gutsbesitzer, sondern versuchte, die soziale Lage der Bauern zu verbessern. Später entwickelte er Ideen eines Urchristentums, die so an Anarchismus grenzten, dass er 1901 exkommuniziert wurde. Aber auch sein Glaube heilte ihn nicht von dem Bruch seiner Person: hie rigider Moralismus, hie Lebens-, Liebes- und Spiellust (bis Sucht). Tolstoi starb vor 100 Jahren, am 7.November1910.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.02.2010)

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