"Margin Call": Ein unkonventioneller Katastrophenfilm

Margin Call unkonventioneller Katastrophenfilm
Margin Call unkonventioneller Katastrophenfilm(c) JOJO WHILDEN
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"Presse"-Premiere. Hollywoodstars in der Wirtschaftskrise: Das Börsendrama "Margin Call - der große Crash" mit Kevin Spacey zeigt Ernüchterung statt Hysterie und ein diffuses Schuldgefühl.

Der Begriff Crash evoziert sofort starke Bilder: von ineinander verkeilten Autos zum Beispiel. Oder von einem abstürzenden Flugzeug, das in einem Feuerball verglüht. Jedenfalls immer Situationen, die einer Katastrophe gleichzusetzen und endgültig sind. Umgelegt auf das in Krisenzeiten beliebte Sprachbild eines Börsencrashs müsste man sich also die Verunfallung der Weltwirtschaft vorstellen.

In J.C. Chandors esoterisch angehauchtem Thriller-Drama Margin Call – der große Crash entdeckt ausgerechnet ein kleiner Risikoanalyst im großen Finanzunternehmen die ersten Anzeichen für den Absturz. Vier Fünftel seiner Abteilung wurden gekündigt, er bearbeitet die Unterlagen des entlassenen Chef-Risikoanalysten (feine Gastrolle: Stanley Tucci) und entdeckt Erschütterndes: Erhöht man in der Kalkulation die Schwankungsbreiten nur geringfügig, so übersteigt der eingefahrene Verlust schnell den momentanen Wert des Unternehmens. Wie eine Katastrophe biblischen Ausmaßes wirft die Erkenntnis Schatten über die Glasfassadentürme der Wall Street. Regisseur Chandor, selbst Spross einer Hochfinanzfamilie, nutzt die Unrast der Figuren für eine Unheilsdramaturgie: Wie ein Priester, der auf das Ende der Welt wartet, steht Abteilungsleiter Kevin Spacey im Maßanzug vor einer Fensterscheibe und blickt auf das umliegende Häusermeer. Statt Hysterie dominiert Ernüchterung – und das diffuse Gefühl, den Crash selbst mitverursacht zu haben. Ganz oben im Wolkenkratzer, in Gehweite vom Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach, residieren die Steuermänner und -frauen (Jeremy Irons, Demi Moore u.a.), die einen Krisengipfel einberufen und Taktiken besprechen.

Publikumsfreundliches Finanzweltporträt

Chandors Drama bricht dabei publikumsfreundlich die komplexen Prozesse auf den menschlichen Faktor herunter. Kurskurven sieht man nur von fern, strategische Meetings kreisen eher um Zwischenmenschliches denn Fakten. Wie in Oliver Stones Wall Street2 geht es darum, den Kollaps zu naturalisieren: den Zusammenbruch eines untragbar gewordenen Systems zu akzeptieren und davon abzurücken, die Schuldigen hinter den Kulissen ausfindig zu machen und zu dämonisieren. Jeder hat mitgespielt, jeder wird verlieren. Die Konzentration auf eine Nacht ermöglicht ein kleines, feines Situationsdrama, in dem es nicht um vergangene Sünden und Fehlentscheidungen geht. Sondern es geht nur um den Moment – und was die einzelnen Spieler daraus machen.

Chandors Film mutig zu nennen ginge zu weit. Aber er ist unkonventionell und überraschend unmodern darin, wie er seine Figuren beschreibt und sie handeln lässt. Im Vergleich mit anderen Finanzwelt-Thrillern wird das augenscheinlich: Mitte der 1980er, als Reaganomics und Thatcherismen den Neoliberalismus salonfähig und begreifbar machten, waren Banker meist Yuppies in Designeranzügen und mit reichlich (sündteurer) Pomade im Haar, unterhielten Konten in Steuerparadiesen, koksten mit Prostituierten um die Wette und sahen aus wie Michael Douglas (oder seine Brüder). Brett Easton Ellis beschrieb den Phänotyp des gierigen, dauergeilen, geltungssüchtigen Wall-Street-Emporkömmlings im Schockroman „American Psycho“ schließlich als Serienmörder, der einem die Axt in den Schädel schlägt, weil man feschere Visitenkarten hat.

Mit Margin Call ist jetzt die große Solidarisierung angebrochen, auch wenn die „Occupy Wall Street“-Bewegung davon noch nichts zu wissen scheint. Es gilt zu tun, was man nach Katastrophen immer tut: Man überwindet alte Konflikte, gesteht sich die eigene Schuld ein und blickt gen Horizont. Überleben, egal ob ein Angriff der Außerirdischen, ein Vulkanausbruch oder eine Finanzkrise: Irgendwo keimt immer die Hoffnung. Behauptet zumindest das Kino.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.12.2011)

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