Karajan: Vom richtigen Zeitpunkt – musikalisch

(c) EPA (Patrick Seeger)
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Zum 100. Geburtstag der Dirigenten-Legende lohnt es sich, wieder einmal Karajans Aufnahmen zu hören.

Am Samstag jährt sich zum 100. Mal der Geburtstag Herbert von Karajans. Seit Wochen geistert der Name des Dirigenten durch die Medien – und alles, was heutigen Betrachtern wesentlich scheint, also vor allem die Frage, wie oft er der NSDAP beigetreten ist, wird aus sämtlichen möglichen Blickwinkeln beleuchtet. Karajan ist als historischen Figur lebendiger als jeder andere Dirigent des 20. Jahrhundert.

Die Nachgeborenen versuchen das Phänomen mit klugen Analysen des Karajanschen Machtstrebens und Vermarktungs- Genies zu fassen. Erstaunlich wenig ist bei alledem von Karajans Kunst die Rede, seinem überreichen Erbe an Aufnahmen zum Trotz. Vielleicht hilft ein kleiner Ratgeber bei der Orientierung im schwer zu durchforstenden CD-Dickicht? Jedenfalls kann der Lauschangriff manches gängige Klischee enttarnen. Karajans Nachruhm ist, so über künstlerische Fragen überhaupt gesprochen oder geschrieben wird, überlagert von vorgeformten Floskeln, deren meistbenutzte Vokabeln lauten: Glätte, Perfektion, Oberflächenpolitur, Stromlinienform. Im Falle von Musik des Barock und der Klassik lauten die Diagnosen auch: überholt, romantisierend, theatralisch. Kritik an Karajans Bach-Bild scheint durch die Funde der Originalinstrumenten- Bewegung mittlerweile tatsächlich unausweichlich.

Doch schon der Mozart-Dirigent Karajan war – vor allem in der Oper – anders als die Fama will, moderner, weil schlank und klar in der Tongebung, dabei von eloquenter Flexibilität in der Einbindung der Singstimmen ins instrumentale Kontinuum. Vorschlag Nummer eins also: eine der Karajanschen Aufnahmen des „Figaro“ zu hören, gleich welche, und aufgemerkt, wie Lorenzo da Pontes Text auf Punkt und Beistrich, auf Wortwitz und Pointe plastisch wird.

Revolutionärer Feuergeist

Dann, gehen wir chronologisch vor, die Einspielung der „Eroica“ mit dem Philharmonia Orchestra von Anfang der fünfziger Jahre, die, alles andere als glatt poliert, von revolutionärem Feueratem erfüllt scheint, und im Adagio von jener „tränenlosen Trauer“, von der Furtwängler einmal gesprochen hat. Die Aufnahme der Neunten aus der von vielen Kommentatoren zur sinnlosesten Aktion der Interpretationsgeschichte stilisierten zweiten Berliner Gesamtaufnahme der Beethoven-Symphonien von Mitte der siebziger Jahre (auf DG) könnte – mit ihrem vollendet strömenden langsamen Satz vor allem – zur Aufklärung beitragen. Ebenso die Wiedergabe der Vierten Symphonie von Robert Schumann, wie sie die Berliner Philharmoniker Ende der Fünfzigerjahre für EMI im Studio realisierten: Karajan hat einmal von Furtwänglers magischer Gestaltung des Übergangs vom Scherzo ins Finale geschwärmt – und erreicht in diesen Augenblick der Transzendenz selbst eine Verdichtung, die in der Tonträger-Geschichte singulär dasteht.

Das ist der Zauberer Karajan, der als Farben- und Stimmungs-Künstler mit Wiedergaben von Werken Debussys, Ravels berauschende Wirkung ausüben kann. Auch mit den „Vier letzten Liedern“ von Richard Strauss mit der schwebenden Engelsstimme der Gundula Janowitz, oder mit der irisierend aufgefächerten Streicher-Klangpalette in Schönbergs „Verklärter Nacht“. Dergleichen wird, vor allem im Zusammenhang mit einer Ikone des musikalischen Fortschritts, als narkotisierendes Ablenkungsmanöver denunziert – und doch hat, ein wichtiger Hörvorschlag, niemand Schönbergs zwölftönige Orchestervariationen op. 31 durchhörbarer, klüger strukturiert darzustellen verstanden als Karajan. Man muss, wie gesagt, die Aufnahmen hören, die jedem Vergleich mühelos standhalten, um das zu erkennen, statt ungeprüft Gemeinplätze nachzubeten. Mit dem Staunen kommt die Erkenntnis, was das viel zitierte „Wunder Karajan“ tatsächlich war.

Der grandiose Musik-Handwerker

Von den handwerklichen Qualitäten des Kapellmeisters Karajan war dabei noch nicht die Rede, der vielleicht wichtigsten Säule seines Künstlertums. Hier lohnt sich’s die Live- Aufnahme der Staatsopern-„Fledermaus“ von 1960 zur Hand zu nehmen und der Ball- Einlage Giuseppe di Stefanos zu lauschen: Mitten in der Strauß-Operette singt da einer Lehár, so frei und ungehindert wie nur ein egomanischer Tenor das kann – und die Philharmoniker begleiten, dass dem Kenner der Mund offen bleibt: Nur Karajan konnte ahnen, wann genau di Stefano jeweils ein Phrase wirklich beenden würde; keine Zehntelsekunde sind Sänger und Orchester im Dissens! Solche Kunstfertigkeit des Begleiters verraten freilich auch die Aufnahmen von Donizettis „Lucia“ mit der Callas, vor allem aber, sozusagen invertiert, die beiden Aufnahmen des „Falstaff“, wo der Maestro zum unumschränkten Herrscher wird, Orchestermusiker wie Sänger in seinem imaginären Marionettentheater auf aberwitzige Weise konzertiert – und die dieserart erreichte höchste Künstlichkeit via Boitos Libretto und Verdis Musik wieder zur natürlichsten Sache der Welt macht: Shakespeare steht am Ende. Kann ein Theater-Mann (auch mit musikalischen Mitteln) mehr erreichen?

"Die Presse" Printausgabe 3. April 2008

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