Volksoper: Getanztes Denkmal für eine Primaballerina

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Boris Eifmans „Giselle Rouge“ erinnert an die russische Ballerina Olga Spessiwzewa, die emigrieren musste und dem Wahnsinn anheimfiel. Olga Esina brilliert in dieser sensiblen Charakterrolle, Kirill Kourlaev als roher Bolschewik.

Sie ist eine der immerwährenden Glanzfiguren des klassischen Balletts: Giselle, das naive, zartbesaitete Mädchen vom Lande, das, von der großen Liebe ihres Lebens enttäuscht, dem Wahnsinn anheimfällt, stirbt – und danach als eine der sagenumwobenen Wilis aus dem Grab steigt, um zu tanzen. Eine Glanzrolle, die von der Ballerina ein Höchstmaß an dramatischer Darstellungskunst verlangt – auch wenn sich Marius Petipas St. Petersburger Fassung von 1887 vom Original (Jean Coralli, Jules Perrot, 1841) unterschied, weil mehr getanzt wurde, zumal auf der Spitze, während ursprünglich wesentliche Szenen nur pantomimisch dargestellt wurden. Keine andere hat sich in die Dramatik dieser Figur so hineinfühlen können wie die russische Primaballerina Olga Spessiwzewa (1895–1991). Sie besuchte sogar psychiatrische Einrichtungen, um Mimik und Körpersprache von Betroffenen zu studieren und die berühmte Wahnsinnsszene so realitätsnah wie möglich zu interpretieren. Tragisch, dass sie später selbst in der Psychiatrie landete.

Die „rote“ Giselle erlebte die Revolution

Boris Eifman hat Olga Spessiwzewa ein Ballett gewidmet, das die Parallelen der persönlichen Entwicklung der Künstlerin mit jener von Giselle thematisiert und der Ballerina ein choreografisches Denkmal setzt. „Ich war schockiert, als ich begann, mich mit den Einzelheiten ihres Lebens vertraut zu machen“, so Eifman. Sie erlebte die russische Revolution und die Stürmung des Mariinski-Theaters mit, sie emigrierte nach Paris, später in die USA, erlebte berufliche und private Enttäuschungen, brach einmal öffentlich auf der Bühne zusammen und zeigte bald psychologische Auffälligkeiten. Seine „Giselle Rouge“ (das Rot steht für die Revolution), 1997 in St. Petersburg uraufgeführt, versteht Eifman auch als Symbol für alle Künstler, die in Russland unterdrückt wurden, ihr Land verlassen mussten und entwurzelt wurden – er selbst kam während der Verbannung seiner Eltern in Sibirien zur Welt.

In Wien hat er eine hervorragende Darstellerin für seine „Giselle Rouge“ gefunden: Olga Esina ist im dramatischen Fach versiert, sie taucht tief in die verzweifelte, oft innerlich zerrissene Persönlichkeit der Unglücklichen ein und vermittelt mit ihrem ausdrucksstarken Körper und einer ergreifenden Mimik eine Ahnung davon, wie es gewesen sein könnte, die Spessiwzewa auf der Bühne zu erleben: Sie war, berichten Zeitzeugen, zu einer ans „pathologische“ grenzenden Vertiefung der Wahnsinnsszene in der Lage.

Verewigt hat Eifman auch den bolschewikischen Funktionär Boris Kaplun, mit dem Spessiwzewa eine Liaison hatte und der ihr die Ausreisepapiere beschaffte. Kirill Kourlaev gibt den Kommissar als rauen Muskelprotz im schwarzen Ledermantel, der sich der zerbrechlichen Ballerina, von der er auch fasziniert ist, bedient, um sein Ego und seine Triebe zu befriedigen. Die stürmischen, oft groben Pas de deux der beiden beeindrucken durch ein raffiniertes Wechselspiel aus sexueller Anziehung, Furcht und Ekel (sie) sowie verletztem Stolz (er). Die Musik dazu tut nicht selten in den Ohren weh, und wenn der Kommissar das Leichtgewicht im weißen Tutu schultert, dann meint man, er trüge einen betäubten Schwan zur Schlachtbank.

Heimat an der Ballettstange

Als Gegenspieler zwangsläufig unterlegen ist der strenge, aber feinfühlige Tanzlehrer: Eno Peci steht in dieser emotionalen Rolle exemplarisch für kunstsinnige Verehrer der Spessiwzewa und für ihr Leben, als es sich noch an der Ballettstange des Mariinski-Theaters abspielte und in Ordnung war. Diese Heimat hat sie später vermisst. Auch das wird in Eifmans „Giselle Rouge“ deutlich: Roman Lazik ist im zweiten Teil ihr energiegeladener Tanzpartner, der ihr den neuen, weniger steifen Tanzstil beibringt, der sich von der klassischen St. Petersburger Schule unterscheidet. Dass der von ihr so verehrte Mentor homosexuell ist, bricht ihr das Herz. Was geschieht, hört man auch aus der Musik: Die russische Tradition klingt im ersten Akt mit Tschaikowsky an, der herannahende Wahnsinn manifestiert sich in den Stücken Alfred Schnittkes, das tragische Ende tönt mit Adolphe Adams „Giselle“-Finale. Das Volksopern-Orchester wirkte unter Andreas Schüller geschickt als emotionaler Verstärker. Zuletzt bleibt auch Eifmans „Giselle Rouge“ nur der Wahnsinn als Ausweg, um das alles nicht mehr ertragen zu müssen.

Vorstellungen: 15. und 27. April, 3. und 11. Mai.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.04.2015)

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