Salzburg: Pollini, Schiff und der fantastische Realismus der Klassik

(c) Clemens Fabry
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Maurizio Pollini und András Schiff entwerfen unterschiedliche Perspektiven für die Betrachtung der Musik der Wiener Klassik. Pollini konfrontiert im Festspielhaus Beethoven mit Schönberg, Schiff spielt im Mozarteum „letzte Sonaten“ von Haydn bis Schubert.

Was haben Haydn, Mozart und Beethoven miteinander zu tun? Man subsumiert sie gemeinhin unter dem Rubrum „Wiener Klassik“. Gehört Schubert dazu? Wie weit entfernt ist die Musik der sogenannten Neuen Wiener Schule um Arnold Schönberg von der sprichwörtlichen formalen Vollkommenheit der Klassiker? Und woran misst man diese Vollkommenheit?

Was die Distanz zwischen Beethoven und Schönberg betrifft, scheint man sich im Publikum nach wie vor einig. Die Schönberg'schen Klavierstücke, vor allem die aphoristisch kurzen der Sammlung op. 19, ähneln ja wirklich in nichts einem klassischen Sonatensatz. Nicht nur, weil der Komponist jegliche Erinnerung an die vertraute Dur-Moll-Harmonik vermieden hat. Die motivischen Figuren – von Melodien will man ja übrigens schon bei Beethoven selten sprechen – bewegen sich in jener „atonalen“ Phase der Musikgeschichte sozusagen frei im Raum, sie erzählen knappe Geschichten von jähen Aufwallungen oder kaum ausgesprochene Emotionen, die nur im Flüsterton artikuliert werden und oft nach wenigen Sekunden unserm Blickfeld wieder entschwinden.

Bemerkenswert, dass ein Mann wie Maurizio Pollini solchen Erkundungstouren im immer noch fremden Ambiente nach wie vor viel liebevollere Aufmerksamkeit zuzuwenden scheint als der Ausgestaltung einer Beethoven-Sonate. Bei seinem Festspiel-Nachmittag ließ er einer doch eher verwaschenen und monochromen, überdies nicht sonderlich präzisen Wiedergabe der „Sturm“-Sonate die Schönberg-Zyklen op. 11 und 19 folgen, denen er subtilste Nuancierungskunst und differenzierteste Anschlagskultur widmete. Jede der kleinen Vignetten erschien in neuem Klanggewand. Beim längsten der Stücke, op. 11/2, statuierte Pollini ein Exempel: Ferruccio Busoni widmete ihm einst eine „konzertmäßige Interpretation“, indem er es kurzerhand korrigierend „umkomponierte“, was Schönberg naturgemäß höchlichst verärgert hat. Pollini demonstriert, subtil schattierend, dass auch das Original sich pianistisch effektvoll darstellen lässt, sogar mit wechselnden harmonischen Spannungsverhältnissen, die kurz vor Schluss einmal bedrohlich nah in Dur-Regionen zu geraten scheinen, um sich zuletzt wieder von diesen zu lösen.

„Letzte Sonaten“ ohne Romantizismus

Wie frei und im ursprünglichen Wortsinn fantastisch schon die Klassiker mit den Formen zu spielen wussten, stellt András Schiff mit seinem dreiteiligen Zyklus „Letzte Sonaten“ dar. Er kombiniert die jeweils letzten Beiträge zur Sonatenform von Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert miteinander. Schon seine karge, an Bach geschulte Spieltechnik sorgt dafür, dass falsche Romantizismen gar nicht aufkommen können.

Kontrapunktische Klarheit herrscht bei Schiff nicht nur beim Gipfelsturm im Fugen-Finale von Beethovens As-Dur-Sonate, sondern sogar dort, wo Kollegen achtlos dem Muster „Melodie mit Begleitung“ huldigen; es gibt bei Meistern vielleicht Haupt- und Neben-, aber niemals Füllstimmen, vernachlässigbare Details. Eine solche Herangehensweise führt scheinbar Ungleichgewichtiges auf eine Ebene – es ist gut, einmal zu hinterfragen, warum die gelebte Interpretationsgeschichte Beethovens letzte Sonaten-Trias höher achtet als die vergleichbaren Werke aus Joseph Haydns Londoner Zeit.

Sie „brechen“ die von späteren Generationen als „klassisch“ bezeichneten, von den „Klassikern“ aber in Wahrheit niemals schematisch angewendeten Formen mit derselben Kühnheit, wie es Franz Schubert wenig später tat – nur dass bei Haydn gern Ironie und Witz im Spiel sind, während die heftigen Einbrüche im „Andantino“ von Schuberts großer A-Dur-Sonate schon die brachiale Expressivität von Gustav Mahlers Subjektivismen vorwegzunehmen scheinen . . .

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2015)

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