Jean Sibelius: Der Symphoniker aus den finnischen Wäldern

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Vor 150 Jahren wurde Jean Sibelius geboren, für die Finnen der Nationalkomponist, in angelsächsischen Ländern immer noch berühmter als Anton Bruckner, in deutschsprachigen Landen jedoch bis heute vernachlässigt, ja verachtet.

Sibelius? Natürlich! Wunschkonzert. „Schwan von Tuonela“, „Valse triste“. „Finlandia“ nicht zu vergessen, das tönende finnische Nationalheiligtum. Ein paar Stücke kennt jeder Musikfreund, auch weil sie sich auch als ideale Demonstrationsmusik für das technische Vermögen eines Symphonieorchesters und, nicht zu vergessen, für die Leistungsfähigkeit neuer Stereoanlagen und Lautsprecherboxen eignen.

Im Übrigen aber muss man in deutschsprachigen Landen über Sibelius nicht diskutieren. Für zeitgenössische Komponisten ist der Name gleichbedeutend mit einem der meistverwendeten Computer-Notensatzprogramme. Für die Musikwissenschaft gilt er als so unzeitgemäß, ja uninteressant wie alle Komponisten, die sich unterstanden haben, in den Jahren nach der vorletzten Jahrhundertwende an Dur und Moll festzuhalten.

Theodor W. Adornos Bosheiten

Nicht einmal anstreifen darf die deutschsprachige Musikwissenschaft am Schaffen dieses Meisters, der den anglofonen Kollegen als einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts gilt, neben Schostakowitsch vielleicht gar als Vollender der europäischen Symphonik. Hierzulande bringt man es im Jahr der Feier des 150. Geburtstags gerade einmal auf die Liveaufführung zweier der sieben Symphonien (19. Oktober/11. Dezember Konzerthaus), und spielt ein paar Mal das Violinkonzert – mit Abstand die meistgehörte Sibelius-Partitur großen Formats. Ein paar kleinere Stücke fallen kaum ins Gewicht. Sibelius ist inexistent in den Köpfen nicht nur der Musikologen, sondern auch der Veranstalter.

Dass es sich nicht lohnt, sich mit der Musik dieses nordischen Außenseiters zu beschäftigen, hat für den deutschsprachigen Raum schon im Jahr 1938 ein Mann dekretiert, dessen unheilvolle Doktrinen für die offizielle Musikgeschichtsschreibung nach 1945 sakrosankt waren: Theodor W. Adorno. Seine „Glosse über Sibelius“ liefert Verächtern bis heute die nötige Sprachmunition, um gegen den Komponisten zu agitieren. Sie steckt voll von Invektiven und weist dem Komponisten einen Platz auf dem Behindertenparkplatz der Musikgeschichte zu. Sibelius sei, so Adorno, „nicht einmal imstande, einen vierstimmigen Satz auszumessen“. Wer im Schaffen dieses Mannes „Originalität“ orte, sei auf dem Holzweg und verkaufe „Versagen als Gelingen, Nichtkönnen als Müssen“: „Es ist die Originalität der Hilflosigkeit“, die „ein unverständliches Ganzes aus den trivialsten Details“ produziere.

Wie viel Adorno vom Schaffen des Jean Sibelius zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Pamphlets überhaupt gekannt hat, ist nicht auszumachen. Jedenfalls wagen es Kommentatoren in unseren Breiten bis heute nicht, sich vorurteilsfrei mit Sibelius auseinanderzusetzen.

Dabei lehrt ein Blick auf die Partituren, dass dieser Komponist nicht nur den späteren Filmmusikschaffenden herrlich pittoreske Klangvorlagen lieferte: Nicht von ungefähr behaupten viele Hörer, in Sibelius' Musik die Weite der finnischen Wälder- und Seenlandschaft förmlich hören zu können. Vielmehr hat Sibelius als Visionär auch manche Phänomene der sogenannten Postmoderne vorweggenommen. Und es gelang ihm, in Zeiten, in denen die von Adorno hofierten Parteigänger der Wiener Schule um Arnold Schönberg verzweifelt um die Neudefinierung klassischer Formen im Niemandsland der sogenannten Atonalität rangen, eine völlig neue, freie, ja anarchische Formensprache zu entwickeln.

Zwei Beispiele. Das Scherzo der Vierten Symphonie, die in Zeiten der Hochglanz-Symphonik eines Richard Strauss zu einer kargen, holzschnittartig transparenten und harmonisch weit ausgreifenden Tonsprache fand, verwandelt sich aus einem scheinbar bukolisch-sanften, liedhaften Intermezzo in ein rätselhaft irrlichterndes Poème, das sich schließlich in Luft aufzulösen scheint.

Ahnungen postmoderner Klangkünste

„Kein' Regel will auch passen“, wenn in der Fünften die harmonischen Strukturen im ersten Satz zu verschwimmen beginnen und ein feines Geäst von flüsternden Streicherfiguren wuchert, als wollte sich die Musik schon anno 1915 auf die Suche nach Klangexperimenten machen, die in den musikhistorischen Annalen erst anlässlich von György Ligeti im Schicksalsjahr 1968 entstandenen „Ramifications“ verzeichnet sind . . .

Wie oft Sibelius nach seinen spätromantischen Anfängen die harmonischen Räume durchforstet, die angeblich nur die sanktionierte Moderne um Schönberg erschlossen hat, wird gar nicht zur Kenntnis genommen. Vermutlich deshalb, weil es dem Komponisten gelungen ist, auch abenteuerlichste Ausschweifungen stets wieder in vertraute Dur oder Moll zurückzuzaubern. Das macht sie für das Publikum beinah durchwegs „bekömmlich“. Und doch will man es mit bedeutenden symphonischen Werken dieses Meisters bis heute nicht konfrontieren. Mit der Musik eines, der doch sein eigenes Scheitern einbekennen musste: In der „Hälfte des Lebens“ angelangt, verstummte Sibelius und brütete „jahrelang über der achten Symphonie, als ob es die Neunte wäre“. Also ätzte Adorno. Es wäre an der Zeit, dass sich Musikfreunde selbst ein Bild machen . . .

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.10.2015)

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