Musikverein: Beethoven, für die Berliner auch ein Revoluzzer

ROMANIA CLASSICAL MUSIC FESTIVAL
ROMANIA CLASSICAL MUSIC FESTIVAL(c) APA/EPA/ROBERT GHEMENT (ROBERT GHEMENT)
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Sir Simon Rattle und die Philharmoniker spielen in fünf Konzerten alle neun Symphonien Beethovens. Zum Auftakt – 1. und 3. – gab es packende widerborstige Akzente zu hören, allerdings auch spannungslos aneinandergereihte Pianopassagen.

Wie sich die Zeiten ändern! Als Simon Rattle zu Claudio Abbados Nachfolger an der Spitze der Berliner Philharmoniker ab der Saison 2002/03 gewählt wurde, war das Meisterorchester „not amused“ darüber, dass die EMI kurz zuvor einen Vertrag über eine Gesamtaufnahme der Beethoven-Symphonien unter Leitung ihres Exklusivkünstlers Rattle abgeschlossen hatte – ausgerechnet mit den Wiener Philharmonikern. Prompt versuchten die Berliner, das Projekt für sich zu reklamieren. Und vermutlich wäre es der Plattenfirma selbst lieber gewesen, sie hätte das als progressiv geltende, merkantil vielversprechende Gespann Rattle/Berliner damals gleich auch mit Beethoven positionieren können.

Doch Sir Simon ließ sich nicht beirren, konnte schließlich im Ansehen seines neuen Orchesters sogar mit seinem Beharren auf Vertragstreue punkten. Die damalige Aufnahme ist weniger ein Meilenstein der Beethoven-Interpretation als vielmehr eine wichtige Wegmarke der Wiener in Richtung größerer stilistischer Flexibilität und Offenheit für die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis geworden. Wenige Jahre später scheint alles anders: EMI Classics existiert nicht mehr, die Box mit Simon Rattles Wiener Beethoven gibt's zum Spottpreis, er selbst scheidet 2018 aus dem prestigeträchtigen Amt. Und die Berliner müssen (oder dürfen) ihren aktuellen gemeinsamen Beethoven-Zyklus mit dem Chef, den sie auch in Paris, Wien, New York, Tokio spielen, unter eigener Flagge auf CD und Blu-ray veröffentlichen: Wer jetzt reserviert, bekommt ihn günstiger . . .

Wieder hoher orchestraler Besuch im Wiener Musikverein: Noch bis Samstag residieren die Berliner im Goldenen Saal und spielen in fünf Konzerten alle neune – ein enorm dichtes Programm. Wie klingt Rattles neuer Beethoven im Konzert? Nach den Symphonien 1 und 3 zu urteilen: federnd, in nie schleppenden, aber auch nicht überzogenen Tempi, in mittlerer Besetzung und bewährter alter „deutscher“ Orchesteraufstellung (die Bässe links und die 2.Violinen rechts), mit gezügeltem Streichervibrato und präsenten Holzbläsern. Ehrensache, dass der in Details vom althergebrachten Notentext abweichende, aktuelle editorische Stand angewendet und auf Retuschen verzichtet wird.

Penible Lust an dynamischem Kontrast

Dennoch musizieren die Berliner nicht direkt schlank, sondern mit leicht forcierter Schärfe im Ton, in der Ersten mit mehrfach allzu krachenden Pauken sowie erfreulich großer, penibler Lust auf dynamische Kontraste und ruppige Sforzati. Diese arbeitet Rattle nicht bloß dort heraus, wo sie Beethoven ausdrücklich verlangt. Die drei Forte-Töne, die in den lyrischen ersten Variationen im „Eroica“-Finale wiederholt klopfen, stechen hier heftig hervor, und die magyarisch gefärbte g-Moll-Variation wenig später wird zum veritablen Hexenritt. Mehr noch: Schon seinerzeit in Wien hatte er im dritten Satz der „Eroica“ im Fortissimo-Tutti des Scherzoteils auf an sich durchlaufenden Vierteln kleine zusätzliche Akzente wider den Takt gesetzt. Nun haben sie sich zu scharfen Synkopierungen ausgewachsen – gleichsam als Echo auf die wütend wiederholten Akkorde im Stirnsatz.

Ja, Rattle will berechtigterweise den Revoluzzer in Beethoven hervorkehren. Von ein paar schönen, sogar bewegenden Passagen abgesehen, duldet er dafür aber klangliche Mankos im Lyrischen, zumal etwa die Hörner zwar nicht gicksen, aber mit geschmeidig-rundem Wohllaut etwas geizen. Vor allem: Wo lebendige Pianophrasen mit Innenspannung zu formen wären, reihen sich manchmal nur leise Töne ohne Profil aneinander. Das gibt keinen tragfähigen Grund für packende Steigerungen. Freilich: Großer Jubel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.11.2015)

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