Musikverein: So wild wirkt Haydn

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Alle Symphonien Haydns: Il giardino armonico begannen ihre Konzertserie „Haydn 2032“.

Tempora mutantur, nos et mutamur in illis: Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen. Der mittelalterliche Hexameter findet sich im authentischen Stimmenmaterial von Joseph Haydns A-Dur-Symphonie Hob. I:64. Warum? Hört man das Werk in der Interpretation von Giovanni Antonini und Il giardino armonico, dann erklärt sich der etwas rätselhaft anmutende Zusatz spätestens im Largo. Alle paar Takte ist da nämlich plötzlich alles anders. Die trotz gedämpfter Zartheit breit strömenden Kantilenen reißen immer wieder ab, die so schön begonnenen Phrasen kommen ins Stocken, erstarren in Generalpausen, sogar einzelne Töne bleiben in der Luft hängen. Und Antonini kaschiert die klaffenden Löcher nicht, sondern reißt sie durch trockene Staccati noch weiter auf – mit enormer Wirkung.

Nicht nur die Zeiten, auch die Symphonien ändern sich: Haydn hat die noch junge Gattung sein Leben lang geformt und geprägt, experimentelle Strömungen aufgegriffen und auf die Spitze getrieben, geheime außermusikalische Inhalte in Klangreden verwandelt, in späten Jahren dann das Erprobte verfeinert und homogenisiert. Natürlich musste er sich dabei über Jahrzehnte hin ebenfalls verwandeln – und ist zumindest mit seiner nie versiegenden Originalität dennoch immer derselbe geblieben. Als Verfechter einer musikalischen Aufklärung versuchte Haydn sein Publikum zu erziehen, es weiterzubilden, gleichsam auf eine Entdeckungsreise mitzunehmen, durch neue Gedankengänge zu leiten. Er spielte mit den Erwartungen, fesselte durch Humor und Überraschungen, immer mit dem Ziel, den Horizont des Publikums zu erweitern und dessen Erkenntnisvermögen zu vertiefen.

Aber wer kennt schon alle über hundert Haydn-Symphonien – jenseits der populären Gruppen der „Pariser“, „Londoner“ und einiger Werke der Sturm-und-Drang-Periode? Antal Doráti und die Philharmonia Hungarica waren 1970–1974 Plattenpioniere mit ihrer Gesamtaufnahme, Adam Fischer und seine Österreichisch-Ungarische Haydn-Philharmonie zogen 1987–2001 nach. Die erste Kompletteinspielung auf historischen Instrumenten – auf Decca, unter Christopher Hogwood – musste aber nach 79 Werken vorzeitig abgebrochen werden.

Symphonie Nr. 42: schockartige Effekte

Nun treten Antonini und Il giardino armonico in diese Fußstapfen – frisch, wendig, neugierig. Bis zu Haydns 300. Geburtstag 2032 wollen sie in einer internationalen Konzertserie und auf CD alle Symphonien erarbeitet haben: nicht chronologisch, sondern in anregenden Zusammenhängen.

Der Auftakt im intimen Brahms-Saal machte jedenfalls durch die bekannt zupackende, aber auch fein modellierende, transparente Musizierweise des Ensembles Lust auf mehr: bei den schockartigen Effekten der Symphonie Nr. 42 etwa, aber auch mit tänzerischer Energie und Anmut sowie einem ganz lamentabel-fahlen Andante der Symphonie Nr. 4. Dazu Francesca Aspromonte mit Sopranarien Haydns und Mozarts: exquisit.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.11.2015)

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