Des Jungdirigenten Suche in den Abgründen der Partitur

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Symbolbild.(c) Michaela Bruckberger
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Läuft der erst 26-jährige Lorenzo Viotti Gefahr, verheizt zu werden? Er brennt jedenfalls von selbst – und erntete großen Jubel für sein Debüt bei den Wiener Symphonikern mit Beethovens Zweiter und einer die Extreme auslotenden Deutung von Mahlers Erster Symphonie.

Jugend ist der einzige Fehler, der mit jeder Sekunde geringer wird. Auch die großen, traditionsreichen Klangkörper wollen die schädlichen Aspekte der Routine immer öfter durchbrechen und von Frische, Ungestüm und Enthusiasmus gerade junger Interpreten profitieren: Immerhin ist auch Philippe Jordan, der Chefdirigent der Wiener Symphoniker, erst 41. Die Karrieren mancher seiner Kollegen verlaufen freilich noch steiler. Strawinskys „Sacre du printemps“ etwa unter Gustavo Dudamel 2007 geriet grandios – doch von seiner Rückkehr ans Symphoniker-Pult konnte dann vor lauter internationaler Nachfrage keine Rede mehr sein.

So ist es vielleicht verständlich, dass die Symphoniker den mittlerweile 27-jährigen Lahav Shani schon nach kurzer Bekanntschaft zum Ersten Gastdirigenten ernannt haben, nachdem auch er mit seinem prestigeträchtigen Debüt bei den Wiener Philharmonikern vom musikalischen Jetset erfasst zu werden drohte. Wo bleibt noch Zeit, sich abseits gnadenlos greller Scheinwerfer in Ruhe entwickeln zu können, Fehler zu machen und an ihnen zu reifen?, fragen die Skeptiker. Natürlich gilt auch hier das Wort der Marschallin: In dem Wie – da liegt der ganze Unterschied.
Ob der 26-jährige Lorenzo Viotti Gefahr läuft, verheizt zu werden? Hoffentlich nicht: Jedenfalls brennt der hochbegabte Sohn des 2005 schmerzlich früh verstorbenen Dirigenten Marcello Viotti aus sich selbst heraus, feuert eher alle anderen an. Mit dem Wiener Concert-Verein, dem Kammerorchester, das sich aus den Symphoniker-Reihen rekrutiert, arbeitet er schon seit einigen Jahren zusammen. Nun baten ihn die Symphoniker als Einspringer für Myung-whun Chung zum Debüt ins Konzerthaus – mit fulminantem Erfolg. Auf dem unveränderten Programm: Beethovens 2. und Mahlers 1. Symphonie. Mit dieser hatte auch Lahav Shani bei den Philharmonikern beeindruckt, Viotti tat es ihm nun mit impulsiver, aber klarer Zeichengebung gleich – und mit größerem Mut zum Extrem.

Stille Klangflächen, tosende Orkane

Er orientiert sich bei Mahler gewiss nicht an Bruno Walter, der die Musik seines Freundes klassizistischer deutete als dieser selbst, ganz im Gegenteil: Lorenzo Viotti fasziniert das Heterogene, er sucht die Abgründe, die Brüche der Partitur, um sie dann extra groß herauszustellen. Dennoch geht der Zusammenhalt nicht verloren, er wird nur bis fast zum Zerreißen gespannt, etwa durch eine radikale Tempodramaturgie. Im Stirnsatz schon macht Viotto mit dem „Langsam. Schleppend“ der Einleitung todernst, drosselt das Geschehen immer wieder. So entstehen in allen Sätzen impressionistisch anmutende Inseln. Die hoch motivierten Symphoniker agieren in diesen Klangflächen subtil, etwa beim traumzarten „Lindenbaum“-Zitat aus Mahlers „Gesellenliedern“. Daneben rumpelt rustikal das Scherzo, stechen bei den Klezmer-Einsprengseln die Posaunen keck hervor, donnert das Inferno im Finale – vieles unter explosivem Hochdruck, nicht nur in den letzten, elektrisiert drängenden Takten, da Viotti beim Anstacheln Konditionsschwächen weder zeigt noch duldet.

Dass weniger manchmal mehr sein kann, auch gestisch, wird sich ihm sicher noch erschließen. Im Gegensatz zu Shani lässt er die Hörner beim Choralthema aufstehen, wie von Mahler verlangt; bedauerlich allerdings, dass er die 2. Violinen nicht rechts postiert und dadurch das motivische Wechselspiel teilweise verflacht. Daran litt auch seine ansonsten untadelig forsche Darstellung von Beethovens Zweiter: impulsiv, zügig, mit schön auf Zieltöne hin geformten Phrasen und lustvoll akzentuierten Dissonanzen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2016)

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