Aldeburgh Festival: Alle Vögel auf dem englischen Land

Aldeburgh Festival
Aldeburgh Festival(c) Matt Jolly - Aldeburgh Festival
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Messiaens monumentaler „Catalogue d'oiseaux“ als fast 20-stündiges Ereignis: das kühnste Abenteuer des anregenden Festivals in der Grafschaft Suffolk.

Les Alpes du Dauphiné: Schroffe Klavierakkorde umreißen den imposanten Schauplatz, an dem Olivier Messiaen das Eröffnungsstück seines „Catalogue d’oiseaux“ angesiedelt hat.Und dann, schon in der ersten Generalpause, noch bevor die titelgebenden Alpendohlen ihre Stimmen erheben können, der erste Live-Kommentar: War das ein Grünspecht? Denn die Natur singt vielstimmig mit im gar nicht alpinen, sondern von flachem Marschland geprägten Vogelschutzgebiet von Minsmere in Suffolk – dort, wohin sich Aldeburghs Festivalgemeinde begeben hat, um nach einem Picknick in der Abenddämmerung unter freiem Himmel weiter den Vögeln zu lauschen, den kunstvoll nachkomponierten wie den echten.

Mittelmeersteinschmätzer, Seidenrohrsänger, Kurzzehenlerche: Wer zählt die Vögel, nennt die Namen? Messiaen konnte die Gesänge und Rufe von 700 Arten aus aller Welt unterscheiden, heißt es. Mit dem Notizbuch in freier Wildbahn auf Hörpirsch (und auch von Plattenaufnahmen) lauschte er ab den 1940er-Jahren der Natur einen immensen Reichtum ab, den er präzise aufzeichnete.

Gegenentwurf zur Avantgarde

Er begann damit in einer auch privat tragisch überschatteten Zeit. Damals driftete seine Frau Mi durch eine Hirnerkrankung geistig aus dem Dasein, während die junge, hochbegabte Pianistin Yvonne Loriod sich zu seiner Muse entwickelte: Neue Liebe und alter Schmerz verbanden sich im Fühlen des strengen Katholiken, der Ehebruch als Sünde sah. Sein Hören auf die Vögel wurde ein radikaler, persönlicher Gegenentwurf zur strengen Reihentechnik der Avantgarde, der er paradoxerweise selbst den Weg bereitet hatte.

In seinem achten, letzten Jahr als künstlerischer Leiter des Aldeburgh Festivals hat sich Pierre-Laurent Aimard, schon als Teenager ein Meisterschüler Loriods, einen Wunsch erfüllt und zugleich eine enorme Aufgabe gestellt: Messiaens „Catalogue d'oiseaux“, einen der anspruchsvollsten und (mit etwa 160 Minuten Dauer) längsten Klavierzyklen des 20. Jahrhunderts, erstmals an einem Tag komplett aufzuführen – in vier Teilen, beginnend um 4.30 Uhr früh mit Blick durch die Fenster auf den Sonnenaufgang über der Riedlandschaft des Flusses Alde, endend kurz vor Mitternacht mit einem Finsterkonzert auf Matratzen im Britten-Studio.

Was zunächst etwas nach Event riechen mochte, entpuppte sich dank glänzender Organisation und fröhlicher Disziplin des Publikums – von lokalen Birdewatchers bis zu von weither angereisten Messiaen-Liebhabern – als bewegendes Erlebnis. Nicht zuletzt wegen der Portionierung in viermal 40 Minuten, die nicht der Abfolge der sieben Bücher des „Catalogue“ gehorchte, sondern Messiaens 13 Stücke mit 77 darin verarbeiteten Vogelstimmen naheliegenderweise anhand der in der Musik gezeichneten Tageszeiten neu ordnete: Selbst wer sich dazwischen Naturfilme und musikwissenschaftliche und/oder ornithologische Vorträge nicht entgehen lassen wollte, hatte noch genügend Ruhe, um dem nächsten Teil wieder erfrischt lauschen zu können.

Und das lohnte sich. Denn Aimard brachte mit stupendem Anschlagsreichtum und nie versiegender Spannung Messiaens verblüffende pianistische Konglomerate zum Leuchten. Der „Catalogue“ ist ja keine Sammlung lexikalisch knapper Einträge, wie der Titel nahelegen würde, sondern besteht aus längeren Szenen, geformt aus eigentlichen (Vogel-)Gesangsstimmen, freier Harmonik, die Klang- und sogar Gefiederfarben der Tiere einzufangen vermag – und einer Verbindung aus allgemein programmatischer Naturschilderung mit individueller Seelenschau. Da machte Aimard auch die düsteren Schichten fühlbar: Jubel war ihm dafür zuletzt gewiss, fast 20 Stunden nach Beginn dieses Abenteuers.

Die edle Qual des Ian Bostridge

Nicht durchwegs so kühn, aber stets anregend und meist eindringlich interpretiert war das übrige Programm des Aldeburgh Festival, das Benjamin Britten und Peter Pears 1948 in ihrer Wahlheimat gegründet haben. Bachs Matthäuspassion etwa machte da Eindruck, vielfach rasch und leichtfüßig federnd, an den neuralgischen Punkten aber dramatisch aufgeheizt – mit dem formidablen Monteverdi Choir, dem prägnanten James Gilchrist als Evangelist und den English Baroque Soloists unter John Eliot Gardiner.

Außerdem wurde dem Hausgott Britten Musik von Michael Tippett gegenübergestellt, wobei das großartige Heath Quartet vorführte, wie der manchmal etwas sperrigen Tonsprache dieses mutigen Eigenbrötlers mit gewissenhaft detaillierter Sinngebung beizukommen ist. Wenn freilich Ian Bostridge als stets etwas leidend wirkender Dandy Liederzyklen von Britten und Tippett singt, wird eine Art edler Qual zur zentralen Ausdruckspose: menschliche Klage als Gegenstück zum zwitschernden (Gottes-)Lob der Natur.

Aldeburgh Festival: www.aldeburgh.co.uk
Mitschnitte: „Catalogue d'oiseaux“ und andere Aldeburgh-Konzerte: www.bbc.co.uk/radio3

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2016)

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