Ilija Trojanow: „Ich bin ein obsessiver Recherchierer“

(c) Die Presse (Teresa Zötl)
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Das Thalia Theater in Hamburg zeigt heuer
beim YDP die Uraufführung von Ilija
Trojanows „Die Welt ist groß und
Rettung lauert überall“. Ein Gespräch mit dem
bulgarischen Schriftsteller über Dichtung,
Wahrheit und die Zukunft der Welt.

„Die Presse": In Ihrem Erstling „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall" zieht ein lebenslustiger Patenonkel sein Patenkind aus Lethargie und Depres­sion. Erzählen Sie mehr von Ihrer Geschichte.

Ilija Trojanow: Es geht um das mysteriöse Zusammenspiel von Glück, Schicksal einerseits, freiem Willen, Selbstbestimmung andererseits. Die Metapher dafür ist Backgammon, ein Spiel, bei dem wie bei keinem anderen die Balance zwischen Würfelglück und Spielverständnis zählt. Die beiden Seiten dieser Medaille finden Ausdruck in den zwei Hauptfiguren des Romans. Da ist der alte Bai Dan, der stets alle möglichen Grenzen überschritten hat. Er hat ­eine große Fantasie und einen großen Widerstandsgeist. Sein Patenkind Alex dagegen ist ein Mitläufer ohne eine starke eigene Persönlichkeit. Er hat keine Visionen oder Ambitionen. Außerdem leidet er seit einem Autounfall, bei dem seine Eltern ums Leben gekommen sind, an Amnesie. Bai Dan bringt ihn ins Leben zurück, indem er ihn mit den Mitteln des Spiels und der Reise provoziert, anregt und mobilisiert.

Was ist real, was ist Traum in ­Ihrem Buch?

Trojanow: Das muss der Leser entscheiden. Nehmen Sie Shakespeares „Romeo und Julia": Gibt es den Balkon, oder gibt es ihn nicht? Haben Romeo und Julia einander dort ihre Liebe erklärt oder woanders? Das Interessante an Kultur ist, dass Mythos und Realität sich vermengen. Ich war als Sechsjähriger in diesem Flüchtlingslager bei Triest, das es nicht mehr gibt. Ich bin aber auch ein obsessiver Recherchierer. Übertragen auf den Balkon von „Romeo und Julia" heißt das: Ich baue den Balkon so, dass er nicht aussieht wie aus Pappmaché, als könnte er gleich zusammenbrechen. Die Figuren können auf ihm stehen, und auch Sie als Leser müssen glauben, dass es diesen Balkon gibt. Das ist mir sehr wichtig. Es muss alles stimmen. Bei der Übersetzung meines dritten Romans „Der Weltensammler" ins Arabische hat der arabische Übersetzer nur einen einzigen Schreibfehler gefunden. Trotzdem, was real und was Fiktion ist, das hängt von der Sichtweise des Lesers ab. Die Reise ist im Übrigen eine sehr häufige und adäquate künstlerische Deutung des Lebens, angefangen bei Odysseus: die Lebensreise, Stationen, Aufbruch, Umbruch, Ankunft. Die Reise ist eines der wichtigsten thematischen und narrativen Elemente der Weltliteratur.

Sie haben in Bulgarien, Afrika, Deutschland, Wien und an anderen Orten gelebt. Was bedeutet für Sie Heimat?

Trojanow: Alle intimen Momente der Liebe, der Geborgenheit, die Familie, die Menschen, die man liebt, die einem nahestehen, die Sprache, die Landschaften, Gerüche, Farben, die Nischen, Oasen, in die man sich zurückzieht. Es gibt keinen Menschen ohne Heimat. Aber ein Staat kann niemals eine Heimat sein. Das ist ein an den Haaren herbeigezogenes, nicht real existierendes Konstrukt. Heimat ist etwas extrem Individuelles und Intimes. Ich glaube auch nicht, dass es Kulturkreise gibt. Das ist eine völlige Fiktion. Jeder ist sein eigener Kulturkreis, erschaffen aus allen möglichen Prägungen, Interessen, Leidenschaften, Hobbys, Begegnungen, Reisen, Freundschaften. Meiner ist vielleicht ein bisschen weiter gefasst als bei anderen. Jedenfalls stellt jeder von uns seine eigene kulturelle Mischung dar. Es gibt z.B. ­eine österreichische Künstlerin, die Hohepriesterin bei den Yoruba in Nigeria geworden ist (Susanne Wenger 1915-2009). Der Weg, den man selbst im Leben gehen kann, ist grenzenlos. Es gibt ja auch den typischen Wiener bald nicht mehr. Die einen machen Yoga, andere gehören einer Sekte an, wieder andere sind Atheisten und essen gern Sushi.
Die Sprache ist das einzig Österreichische.

Sind Sie optimistisch oder pessimistisch für die Welt?

Trojanow: Ich bin von meinem Wesen her optimistisch. Andererseits, wenn ich mir die großen Konflikte anschaue . . . Es müsste eigentlich ein Ruck durch die Gesellschaft gehen. Die Leute müssten wieder beginnen, die politische Gestaltung ihres Lebens in die eigene Hand zu nehmen. Sie müssten sich z.B. wehren gegen den Überwachungsstaat, über den ich gerade ein Buch geschrieben habe, gemeinsam mit Juli Zeh, das im Herbst herauskommt. Stattdessen erleben wir eine desinteressierte, apolitische Gesellschaft. Jeder hockt in seiner eigenen kleinen Welt herum.

Es gibt keine große emotionale, organisatorische Rebellion. Die ist aber für den Fortschritt unumgänglich.

Ein autoritäres System ist natürlich auch ein Ausweg aus der Krise. Das wäre noch schlimmer. Im Prinzip glaube ich an die Fähigkeiten des Menschen. Futurologen sagen z.B., wir gingen einer Wirtschaft entgegen, in der alle Vorgänge automatisiert werden. Das bedeutet eine völlige Befreiung aus diesen stumpfsinnigen Zwangsarbeitsverhältnissen zum Zwecke des Gelderwerbs. Die Gesellschaft muss dafür sorgen, dass das von den Maschinen erwirtschaftete Vermögen sinnvoll verteilt wird.
Das ist eine unglaubliche Chance für die Menschheit.

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