Kunstaktion: Die Toten sprechen zu lassen ist gefährlich

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Darf man Körper ertrunkener Flüchtlinge für eigene Botschaften benutzen, wie die Aktion "Die Toten kommen"? Was daran ist Kunst, was Propaganda? Über die Autorität von Leichen und wie leicht sie missbraucht wird.

Wenn Künstler nicht Tote sprechen lassen dürfen, wer dann? Viele haben das sogar als zentrale Aufgabe der Kunst gesehen. Shakespeare hat lang verstorbene Persönlichkeiten für seine Zeitgenossen zum Leben erweckt, Christa Wolf mythische Frauen wie Kassandra und Medea. Andere ließen vergessene oder verdrängte Tote die Lebenden heimsuchen, etwa Elfriede Jelinek eine Schar von NS-Opfern. Jelineks „Kinder der Toten“ sind Wiedergänger, und Wiedergänger durchziehen die Literatur; sie zwingen die Lebenden zu sehen, was diese nicht sehen wollen. Oft sind sie Ermordete wie der Komtur im „Don Giovanni“, sie reichen den Lebenden ihre eisige Hand, klagen an, fordern Sühne oder Reue.

Auch in dieser Tradition steht die Aktion, die seit etlichen Tagen nicht nur in Berlin für Aufsehen und Diskussionen sorgt und deren Titel „Die Toten kommen“ nicht zufällig bedrohlich klingt. Aus südeuropäischen Kühlhäusern holen die Aktivisten des Zentrums für politische Schönheit Leichen von im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingen nach Deutschland, um sie dort zu bestatten. Sagen sie. Man weiß nicht, was davon stimmt, und ob bei der Beerdigung am Dienstag auf dem Friedhof Berlin-Gatow wirklich eine Syrerin im Sarg war, die mit ihrem jüngsten Kind ertrunken ist. Die für den gestrigen Sonntag angekündigte Aushebung eines Friedhofsfelds vor dem Berliner Kanzleramt fand nicht statt, die Polizei verbot Bagger und Leichen. Die Botschaft der aktivistischen Beerdigungen aber ist längst angekommen: Man will den Anblick der Toten oder zumindest ihrer Särge denen aufzwingen, die in den Augen der Aktivisten für deren Tod (mit-)verantwortlich sind.

Tote Körper sind als Träger von Botschaften sehr überzeugend, aber auch gefährlich. Deswegen wurden Begräbnisrituale so gern politisch instrumentalisiert, deswegen kursieren im Internet so viele Bilder angeblicher und wirklicher Kriegsopfer. Als es noch keine Fotos gab, verewigten Maler die in der Schlacht Gefallenen. Es gibt wohl nur ein Motiv in der Kunst, das den leidenden, sterbenden und toten Körper mehr ins Zentrum stellt: das des leidenden, sterbenden und toten Jesus. Lovis Corinth malte ihn nach dem Ersten Weltkrieg in seinem Bild „Ecce homo“ mit Pilatus als Arzt und einem Soldaten, aus der Perspektive der Menge. Dieses Bild ist ein Aufruf zum Mitgefühl an den Betrachter, zugleich eine Anklage.

Reliquien für mehr Glaubwürdigkeit

Kriegsopfer und Kruzifix, an beides schließt „Die Toten kommen“ an. Der Titel signalisiert das Stellvertretertum der Einzelnen. Problematisch ist aber, dass man nicht weiß, wie diese Individuen dachten, und ob sie diese Inszenierung gewollt hätten. Man weiß nur, dass die Aktivisten es zu wissen glauben. Und dass sie tote Körper wie Reliquien benutzen, um die Glaubwürdigkeit ihrer Botschaft zu erhöhen. Mit echten Leichen lässt sich große emotionale Wirkung erzielen, und man kann die Toten sagen lassen, was man selbst sagen will, ohne dass diese widersprechen können. Gleichzeitig genießt man deren Autorität: die Autorität eines Toten, eines Opfers.

Literatur, die Tote sprechen lässt, auch wenn sie es mit klarer Botschaft tut, signalisiert allein durch das Genre eine gewisse Fiktionalität, ein „Es könnte so sein“ statt „Es ist so“ – und das ist gut so. Es ist eine gefährliche, für politische Propaganda typische Anmaßung, gar zu sicher im Namen der Toten zu sprechen. In dieser Hinsicht erinnert die Aktion „Die Toten kommen“ an einen unter dem Twitter-Hashtag „#JeSuisAhmed“ veröffentlichten Tweet. Mit Ahmed war der beim Attentat auf „Charlie Hebdo“ getroffene muslimische Polizist, Ahmed Merabet, gemeint, er wurde hier als eigentlicher Held gefeiert, weil er die Meinungsfreiheit mit seinem Leben verteidigt habe – obwohl diese gegen seine Religion gerichtet gewesen sei. „Ich bin nicht Charlie, ich bin Ahmed, der tote Polizist“, ließ der Tweet ihn sagen. „Charlie machte sich über meinen Glauben und meine Kultur lustig, und ich bin für sein Recht, dies tun zu können, gestorben.“

Der libanesische Aktivist, der das schrieb, wusste nicht, wie dieser Polizist über Meinungsfreiheit und Religion gedacht hatte. Man weiß auch nicht, was die von den Aktivisten (angeblich) nach Berlin gebrachten Toten genau dachten. Hätten sie gewollt, dass ihre Körper so instrumentalisiert werden? Immer noch besser, als in einem Massengrab zu enden, sagen die Künstler – eine schwache Rechtfertigung. Man kann nicht im Namen von Opfern sprechen, wenn man sie zugleich als Individuen nicht ernst nimmt.

Kunst als Mantel für Denkmangel

Deswegen ist die Aktion „Die Toten kommen“ auch einfach Propaganda, ganz ohne Kunst. Der verantwortliche Philipp Ruch ließ schon 2014 Kreuze für getötete Mauerflüchtlinge entwenden und zeigte sie dann auf Videos in den Händen heutiger Flüchtlinge – um mit den Opfern der Berliner Mauer an die „Mauertoten an den EU-Außengrenzen“ zu erinnern, ein zu Recht vielkritisierter Kurzschluss. Kunst gegen schlechtes Handeln soll das sein; in Wahrheit ist die Kunst hier nur Mäntelchen für schlechtes Denken.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2015)

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