World Press Photo: „Ich wollte die Liebe fotografieren“

Mads Nissen
Mads NissenMads Nissen, Scanpix/Panos Pictures
  • Drucken

Mads Nissen, Fotograf des Pressefotos des Jahres, will die Darstellung von Gefühlen nicht der Kunst überlassen. Das Leid der Flüchtlinge gehöre dokumentiert, sagt er, aber nicht immer gezeigt.

Ein junger Mann sitzt auf dem Bett, streichelt die nackte Brust seines Freundes. Die Vorhänge sind zugezogen, indirektes Licht, Schatten an der Wand. Mads Nissen erinnert sich genau an den Abend, als er jenes Foto schoss: Es war der 19. Mai des vergangenen Jahres, sein Hochzeitstag. Der dänische Fotograf war in St. Petersburg, wo er an einer Bilderserie über die grassierende Homophobie in Russland arbeitete. Er hatte einen jungen Mann getroffen, dem ein homophober Hooligan mit einem Luftdruckgewehr das Auge ausgeschossen hatte. Er hat Gerichtsprozesse gegen Homosexuelle dokumentiert, ein lesbisches Paar porträtiert, das in Sorge lebt, der Staat könnte ihm die Kinder wegnehmen, und Peiniger fotografiert, die Schwule in Hotels verschleppen, um sie dort zu foltern.

„Ich wollte das alles dokumentieren: den Hass, die Unterdrückung, die Gewalt und den Mangel an Toleranz“, sagt Nissen. „Aber dann fand ich, dass etwas fehlte. Ich zeigte den Leuten nur die Probleme. Bei all dem Hass hatte ich das Bedürfnis, die Liebe zu fotografieren.“ Also machte er sich auf die Suche nach der Liebe – und er fand sie zwischen Jon und Alex. Ein Freund stellte sie ihm vor. Sie trafen sich in einer Bar, tranken Bier, redeten über dies und das. „Offensichtlich waren sie sehr verliebt“, sagt Nissen. Als Jon und Alex nach Hause wollten, fragte er, ob er mitkommen könnte. Sie hatten nichts dagegen.

Fotojournalist, nicht Pressefotograf

Hunderte Fotos schoss Nissen an jenem Abend in Alex' Schlafzimmer. Es fühlte sich richtig an. „Wie kannst du eine Geschichte über verbotene Liebe machen, ohne die Liebe zu zeigen?“, sagt Nissen. Eines der vielen Bilder wählte er aus, die World-Press-Photo-Jury kürte es aus fast 100.000 Einreichungen zum Pressefoto des Jahres. Es sei ein Foto, das „auch noch morgen von Bedeutung ist – nicht nur heute“, so das Urteil der Jury. Jetzt tourt das Bild – gemeinsam mit den anderen prämierten Fotos aus acht Kategorien – durch die Welt, bis 18. Oktober macht die Schau im Wiener Fotomuseum Westlicht halt.

Dass ein Pressefoto des Jahres einen so intimen, privaten Moment zeigt, ist unüblich. Nissen, der sich nicht als Pressefotograf, sondern als Fotojournalist bezeichnet, würde selbst gern mehr solcher Fotos in der Zeitung sehen. Pressefotografen würden sich zu oft nur darauf konzentrieren, Geschehnisse zu dokumentieren. „Sie überlassen es der Kunst, sich um die Gefühle zu kümmern.“

„Wir bekommen so viele Informationen, aber wir haben keine Beziehung zu den Geschichten“, sagt er. Deshalb würde das Foto des toten Flüchtlingsbuben Aylan, der an einen türkischen Strand angespült wurde, uns auch so berühren: Es bricht die Flüchtlingskrise auf einen konkreten Menschen herunter. Das Bild ist aber nicht unumstritten, die meisten österreichischen Medien entschlossen sich, es nicht zu zeigen. Hätte Nissen das Foto gemacht? „Absolut. Es nicht zu tun würde sein Leid verleugnen.“

Wenn „europäische Intellektuelle“ argumentieren, solche Fotos verletzten die Würde der Toten, sei er skeptisch: „Die meisten wollen wohl nicht die Leute im Bild schützen, sondern sich selbst.“ Keine andere Kultur auf der Welt hätte eine so distanzierte Beziehung zu toten Körpern wie die westliche, meint er. Und erzählt von einem Erlebnis in Libyen: Er besuchte eine Leichenhalle, in der die Opfer einer großen Explosion aufgebahrt waren. „Dann kam ein Mann, ein Verwandter von einem der Toten, mit einer großen Plastiktasche, öffnete sie und sagte: ,Schau: Das sind die Gliedmaßen, die wir niemandem mehr zuordnen können. Fotografiere das! Zeig es der Welt!‘“

„Brauchen Foto von diesem Lastwagen“

Er machte das Foto, der Welt zeigte er es nicht. „Es geht darum, die Aufmerksamkeit der Leute zu bekommen, damit sie sich mit einer Sache auseinandersetzen. Nicht darum, sie abzustoßen.“ Nicht jedes Foto würde uns schlauer oder verständnisvoller machen, zur Dokumentation von Leid und Gewalt seien solche Bilder aber wichtig. „Wir brauchen auch das Foto vom Inneren dieses Lastwagens“, sagt Nissen in Bezug auf den Lkw auf der A4, in dem 71 erstickte Menschen gefunden wurden. „Ich würde es mir nicht ansehen wollen, aber wir brauchen es.“

Ein ganz anderes Bild braucht Nissen nicht: Er wird bald zum zweiten Mal Vater, die Geburt seiner Tochter will er ohne Kamera erleben. Warum? „Manchmal ist die Erinnerung schöner als ein Foto. Auch, wenn man sie sich zurechtmanipuliert. Die Augen zu schließen und sich an besondere Momente zu erinnern ist schöner, als durch sein iPad zu scrollen.“

World Press Photo

Ausstellung. Bis 18. Oktober sind im Fotomuseum Westlicht die besten Pressefotos des vergangenen Jahres zu sehen. 41 Fotografen aus 17 Ländern wurden heuer prämiert. Foto des Jahres wurde das Bild des dänischen Fotografen Mads Nissen. Nissen arbeitet für die dänische Zeitung Politiken, in St. Petersburg dokumentierte er die soziale und gesetzliche Diskriminierung von sexuellen Minderheiten. Beim World Press Photo Wettbewerb wurde er schon einmal prämiert: 2011 erhielt er den dritten Preis in der Kategorie „Daily Life Picture Story“ für sein Foto eines kranken Kindes in Nepal.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.