Der ganze Vermeer in der Tasche

(c) imago/Bettina Strenske
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Was Sie schon immer über Vermeer wissen wollten - und das im »Taschen«-XL-Format. Geschrieben hat den Prachtband der ehemalige Gemäldegalerie-Direktor des KHM, Karl Schütz.

Man nehme die Superhelden der Kunstgeschichte (Vermeer, Klimt, bald Schiele), verrichte eine Herkulesarbeit und das alles noch knapp vor Weihnachten, schon ist die Milchmädchenrechnung aufgegangen. Man vergönnt es jedem Verlag heutzutage. Heuer hat sich der Taschen-Verlag für seine repräsentative XL-Schiene Vermeer vorgenommen, der mächtige Ziegel kommt natürlich wieder in der eleganten Hochglanz-Kartontasche. Die Herkulesarbeit betrifft die Überredungsarbeit, die man für Museen aufwenden musste, um 18 der insgesamt 35 Gemälde Vermeers neu fotografieren zu dürfen – das heißt vor allem, die Leinwand auszurahmen und in den Schließzeiten der Museen, abseits vom täglichen Betrieb, zu arbeiten.

Auch der Autor ist vom Feinsten, Karl Schütz hat sich seit seiner Pensionierung als Direktor der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums jedenfalls nicht langweilen müssen. Er ist der Allrounder in der Vermeer-Forschung und war immerhin jahrzehntelang Hüter des, laut Schütz, Hauptwerks Vermeers, der im Wiener Altmeistertempel verwahrten „Malkunst“.

Ohne das eigene Museum ungebührlich hervorheben zu wollen, so Schütz, müsse man der „Malkunst“ trotzdem besonderen Rang im Gesamtwerk zuschreiben. Erst einmal ist das Bild mit 120 mal 100 Zentimetern viel größer als die anderen, alle recht kleinformatigen. Zweitens hat es noch den Originaltitel und hing wahrscheinlich im Atelier des Malers, um den Besuchern zu zeigen, was er so drauf habe. Und zwar bis zu Vermeers (frühem) Lebensende, er hat es nie verkauft.

Starb aus Verzweiflung. Mit 43 starb er dort, wo er geboren war, in Delft. Ganz plötzlich, beschreibt seine Witwe, aus Verzweiflung ob der schlechten wirtschaftlichen Situation, an einem Herzinfarkt oder Schlaganfall wohl. In den letzten drei Jahren seines Lebens malte er fast nicht, wenn überhaupt, so Schütz. Auch sein Hauptauftraggeber starb in dieser Zeit – und elf Kinder waren zu füttern. Nicht einmal die reiche, katholische Schwiegermutter (Vermeer selbst gehörte der protestantischen Mehrheit an), konnte der am Ende Not leidenden Familie helfen.

Dabei trifft das Klischee des armen, verkannten Genies sonst nicht zu, Vermeer hatte sehr wohl schon zu Lebzeit einen Namen, verlangte auch viel Geld für seine Bilder – vielleicht sogar nur von einem einzigen Auftraggeber, das könne Schütz sich schon vorstellen. Das würde auch die auffällig geringe Produktion erklären, Vermeer hatte nicht einmal eine Werkstätte, höchstens ein, zwei Hilfskräfte. Gemalt hat wirklich nur er, eigenhändig, trotz der aufwendigen Technik.

Es war ein ganz besonderer Farbauftrag, so Schütz, unglaublich ökonomisch, aber eine Raffinesse in mehreren Schichten. „Wenn man die Malerei stark vergrößert, sieht man, wie sich der unglaubliche Illusionismus in lauter Farbflecken auflöst“, erklärt Schütz. Der Luster in der „Malkunst“ etwa besteht nur aus Reflexen. Tricks und Kniffe, die andere nicht kannten. Das zeichnet ihn aus, so Schütz. Bei wem aber hatte Vermeer das gelernt? Einen Lehrer kennt man nicht, es wird sogar vermutet, er sei Autodidakt gewesen.

Zu vielen dieser Fragestellungen gibt es eigene Publikationen: zu den vielen Darstellungen der Frauen etwa, die den Großteil seines Werks ausmachen. (Versteckte Erotik? Vermeer bleibt da immer extrem indifferent.) Zur Verwendung von Hilfsmitteln – hat Vermeer eine Camera obscura benutzt, um seine Räume derart hinzubekommen? (Nein, meint Schütz, alles pure Spekulation.) Eine ganz klassisch chronologische, stilistisch-kunsthistorisch aufgebaute Vermeer-Biografie gab es auf Deutsch aber keine aktuelle, musste Schütz feststellen. So sei ihm das Zusammenfassen des neuesten Forschungsstandes das größte Anliegen gewesen. Im englischen Raum sieht es mit der Literatur schon anders aus, die Vermeer-Forschung ist vorwiegend in amerikanischen Händen bzw. Köpfen. Schließlich gibt es in den Museen Metropolitan, Frick Collection und National Gallery Washington auch mehr Vermeers als sonst wo, so Schütz.

Das Nachleben ist bei Vermeer ein besonderer Fall – bis Mitte des 19. Jahrhunderts war er völlig in Vergessenheit geraten. Erst ab 1860 wurde er wiederentdeckt, die oft unter anderen Malernamen laufenden Bilder allmählich wieder ihm zugeschrieben. Um 1900 war er dann schon der Star, der er heute ist.

Der Corpus von 35 Bildern ist seither praktisch unverändert. Ganz anders als etwa bei Rembrandt gibt es nur selten Zuschreibungsdebatten. So sind auch diesem Werkkatalog nur zwei Bilder angehängt, die Schütz nicht ohne Weiteres als eigenhändig durchgehen lassen will, obwohl das bei der jüngsten Ausstellung (in Rom 2012/13) so gehandhabt wurde: eine frühe Hl. Praxedis und eine junge Frau an einem Virginal (Cembalo) sitzend. Beide Bilder befinden sich in privaten Sammlungen, alle anderen 35 in Museen.

„Vermeer. Das vollständige Werk“, 99,99 €. Präsentation: Montag, 23. 11., 18.30h, Kunsthistorisches Museum.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.11.2015)

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