Streiter gegen das Spektakel

Sur le passage ...  (Über den Durchgang ...)  1959, Guy Debord
Sur le passage ... (Über den Durchgang ...) 1959, Guy Debord(c) la Fondation agnès b.
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Retrospektive. Er attackierte die Pseudowelt des Kinos – und verwendete doch das Medium Film für seine radikalen Thesen: Das Filmmuseum zeigt Guy Debord.

In einer Ankündigung seines filmischen Komplementärwerks zur Streitschrift „Die Gesellschaft des Spektakels“ schrieb Guy Debord 1974: „Bis heute ging man allgemein davon aus, dass der Film zur Darstellung revolutionärer Theorie ein völlig ungeeignetes Mittel sei. Diese Ansicht ist verfehlt. Der Mangel an ernsthaften Versuchen in dieser Hinsicht lässt sich auf die Abwesenheit einer modernen revolutionären Theorie beinahe während der gesamten Entwicklungsperiode des Kinos zurückführen.“ Mit seinem Buch meinte er diese Theorie geliefert zu haben, und nun erschloss er sie für – eher: gegen – das Spektakelmedium schlechthin.

Dieser typische Mangel an Bescheidenheit war für Debord keine Pose, sondern das Wappenzeichen eines Klassenkämpfers. Sozialisiert auf harten Pflastern der Pariser Halbwelt – unter Leuten, „die nur negativ definiert werden konnten, weil sie keinen Beruf hatten, keinem Studium nachgingen und keine Kunst ausübten“, wie er im Essay „Panegyrikus“ schrieb – kultivierte er ein ebenso hartes hegelianisches Denken, dessen Kondensat sich in den 221 Thesen der 1967 publizierten „Gesellschaft des Spektakels“ manifestierte. Debords Lebenswerk war allerdings die oft als „letzte Avantgarde“ gepriesene Situationistische Internationale, kurz SI, eine nicht minder rigoros geführte Gruppierung kunstfeindlicher Künstler und Agitatoren, die sich maßgeblich am Pariser Mai 1968 beteiligte.

„Geheul für de Sade“

Debords Interesse am Kino mutet zunächst paradox an: Wie kann einer, der eine „abgesonderte Pseudowelt“ als „Gegenstand der bloßen Kontemplation“ an den Pranger stellte, der Charlie Chaplin als „faschistisches Insekt“ beschimpfte, mit Laufbildern arbeiten? Die Antwort lässt sich bis 11. Februar im Österreichischen Filmmuseum einsehen. Debords Filme sind das Gegenteil von dem, was man heute „publikumsfreundlich“ nennen würde. Eigentlich sind sie nicht zum Anschauen, sondern zum Aneignen – passiver Konsum ist unerwünscht. Seine erste Arbeit entstand 1952, damals noch unter dem Banner der Pariser Lettristenbewegung: „Geheul für de Sade“ besteht aus abwechselndem Schwarz- und Weißbild, Letzteres untermalt von fragmentierten Texten und Gedankenfetzen à la „Das Kino ist tot“. Die Uraufführung versetzte die Zuschauer in Rage und musste abgebrochen werden – ein voller Erfolg. In folgenden Kurzfilm-Experimenten skizzierte Debord die formale Strategie für „Die Gesellschaft des Spektakels“: dialektische Spannung zwischen Ton (theoretische Ausführungen und Polemiken) und Bild (sogenannte détournements, Zweckentfremdungen „feindlichen“ Materials), punktiert von mehr oder weniger kryptischen Anspielungen auf die Privatmythologie des Regisseurs.

Der antispektakuläre „Spektakel“-Film endet mit einem beispielhaften détournement, einer Szene aus dem Westernepos „They Died with Their Boots on“: Der Husarenritt eines Unionsbataillons wird im neuen Kontext zu einer Revolutionsgeste. Der emphatische Einsatz solcher Ausschnitte erinnert daran, dass Debord in seiner Jugend ein eifriger Kinogänger war und seinen Glauben an das Potenzial des Films trotz galliger Kritik an dessen Illusionscharakter nie verloren hat. In seinem nächsten Langfilm mit dem wunderbaren Palindromtitel „In girum imus nocte et consumimur igni“ kommt die Szene erneut vor, doch diesmal sehen wir, wie die Soldaten von Ureinwohnern umzingelt und dezimiert werden – die fatalistische Wendung entspricht dem grimmig-nostalgischen Tonfall des Kinoessays, einer Art Abgesang auf das an die Totalität des Spektakels verlorene Paris aus Debords Lehrjahren, aus dem dennoch der unversöhnliche Ruf nach Umwälzung ertönt: „Alles noch mal von vorn!“

Im Oktober 1983 kaufte Debords Freund und Mäzen Gérard Lebovici ein kleines Pariser Kino, das bis zu Lebovicis ungeklärter Ermordung ein halbes Jahr später ausschließlich mit Debords Filmen bespielt wurde – auch vor leerem Saal. Danach zog Debord sein Filmvermächtnis aus dem Verkehr. Erst 2001, sieben Jahre nach seinem Selbstmord, hob seine Witwe und Mitstreiterin Alice Becker-Ho das Vorführverbot auf. Das Filmmuseum erwarb das schmale Gesamtwerk 2015 und präsentiert es nun zum ersten Mal.

Die rare Gelegenheit, sich von diesem radikalen Außenseiter-Œuvre irritieren und inspirieren zu lassen, sollte man sich nicht entgehen lassen – zumal wohl niemand bestreiten würde, dass die Spektakelgesellschaft floriert. Debord hatte wiederholt ihr Ende prophezeit, doch die weltweite Replik darauf lautet bis heute, um einen Ausspruch Franz Beckenbauers zu détournieren: „Schau'n mer mal, dann seh'n mer scho.“

Filmmuseum, bis 11. Februar.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.02.2016)

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