Kieslers Vision: Spannungen im freien Raum

(c) 2016 Kiesler Privatstiftung
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"Friedrich Kiesler. Lebenswelten" gibt einen ansehnlichen Überblick zum Werk des Künstlers. Die Ausstellung lässt die erstaunlich zeitgemäße Denk- und Arbeitsweise eines avantgardistischen und eigenwilligen Geistes nachvollziehen.

Die Frage, was der 1890 in Czernowitz geborene, 1965 in New York verstorbene Künstler, Architekt, Designer und Bühnenbildner Friedrich Kiesler der Nachwelt vermacht hat und ob uns sein umfangreiches Werk überhaupt noch etwas zu sagen hat, beantwortet die Ausstellung „Friedrich Kiesler. Lebenswelten“ im Wiener Museum für angewandte Kunst ab heute umfangreich und mit einem deutlichen Ja.

Zum einen bietet die Schau den bisher ansehnlichsten Überblick über Kieslers Arbeiten, sie zeigt bis dato noch nie ausgestelltes Material, wie etwa zahlreiche Originalskizzen, anhand derer sich die erstaunlich zeitgemäße Denk- und Arbeitsweise des avantgardistischen und höchst eigenwilligen Geistes nachvollziehen lässt. Zum anderen wurden vom Kurator und Chef der Kiesler-Stiftung, Dieter Bogner, die meisten der für Ausstellungen in aller Welt nachgebauten Raumskulpturen und -strukturen Kieslers ins MAK geholt und erstmals in geballter Menge originalgetreu assembliert.

Die „Raumstadt“ in Paris 1925

Im Zentrum und ebenso von einem schwarzen Vorhang umhüllt wie anlässlich der „Exposition internationale des arts décoratifs et industriels modernes“ 1925 in Paris, steht Kieslers „Raumstadt“ – eine gewaltige Ausstellungsarchitektur, die im Raum zu schweben scheint. Josef Hoffmann hatte den jungen Kollegen mit dem Entwurf des österreichischen Beitrags beauftragt. Dieser schrieb sogleich ein Manifest dazu und wollte seinen Entwurf als Vision einer Megastadt verstanden wissen: „Wir wollen keine Mauern, keine Fundamente, wir wollen ein System von Spannungen im freien Raum, wir wollen Schaffung neuer Lebensmöglichkeiten.“

Die Ausstellung führt rund um diesen abgeschlossenen Raum und ist angenehm logisch und ohne unnötige Caprice aufgebaut: Die Besucher lernen Kieslers Lebenswelten in chronologischer Abfolge kennen. Den Beginn macht die Rekonstruktion eines 1924 entwickelten und zu seiner Zeit richtungweisenden Raum-Systems, das der Künstler für eine Ausstellung im Konzerthaus entwickelt hat, und das bereits Kieslers wichtigstes Vermächtnis widerspiegelt: Die Vereinigung der Künste, das Verschmelzen von Architektur, Skulptur und Malerei. Dieses bewusste Übertreten und Verknüpfen scheinbar vorgegebener Grenzen unterschiedlichster Disziplinen sowie ein extrem ausgereiztes Analysieren aller sinnlichen Beziehungen des Menschen mit den sie umgebenden, mitunter einhüllenden Objekten prägte das gesamte Schaffen Kieslers.

„In between“ lautet denn auch der Untertitel der Schau, denn der Mensch findet sich sowohl in Kieslers Arbeiten als auch in der Ausstellung im Mittelpunkt des Geschehens und somit zwischen Objekten und Installationen wieder. Gut veranschaulicht das etwa das Modell der 1924 entwickelten „Raumbühne“, die einen Theatersaal in spiraligen Rampen erobert und Zuschauer und Schauspieler auf Augenhöhe zusammenführt. Wie die selbsttragende Struktur im Betrieb ausgesehen hat, dokumentieren zahlreiche Fotografien. Auf einer ist etwa Künstlerkollege Fernand Léger zu sehen, der die Bühne erklommen hat und seine Umgebung von oben vergnügt zu betrachten scheint, wiewohl überhaupt zahlreiche Fotografien der gesamten Ausstellung einen eigenen Reiz verleihen.

Mitte der 1930er-Jahre – Kiesler lebt zu dieser Zeit bereits in den USA – beginnt er sich für Biowissenschaften zu interessieren, entwirft biomorphe, multifunktionale Tische und Hocker, wie etwa die geschwungenen „Nesting Tables“, die den Nierentisch der 1950er-Jahre vorwegnehmen und heute noch zeitlos und modern wirken. Die mit Studenten entwickelte „Mobile Home Library“, eine in sich drehbare, praktisch mit fixem Staubschutzglas und im optimalen Winkel geneigten Regalen ausgestattet, damit die Buchtitel ideal lesbar sind, veranschaulicht originalgetreu nachgebaut, wie genau Kiesler auf Bedürfnisse der Benutzer eingehen wollte und wie wichtig ihm die Benutzbarkeit seiner Möbelentwürfe war.

Sechs Künstler loten das Werk neu aus

Für Kurator Dieter Bogner steht fest: „Die Architekten haben Kiesler schon lang entdeckt, und sie haben ihn mit all den Blobs und raumbezogenen Architekturen der vergangenen Jahre vorerst einmal abgearbeitet. Doch jetzt hat ihn auch die installative Kunstszene gefunden, die, so wie Kiesler das perfekt vorgeführt hat, aus der Fülle aller zur Verfügung stehenden Medien schöpfen will.“

Den Übergang zwischen den dargestellten Innenwelten Kieslers und seinen weithin bekannten großformatigeren Objekten bilden denn auch die Arbeiten von sechs Künstlern und Künstlerinnen, die eingeladen wurden, Kieslers Ideen und Denkwelten auszuloten und in eigene Werke umzusetzen. Die Französin Lili Reynaud-Dewar etwa schnallt sich ein zum Gewand umfunktioniertes „Endless House“ und damit einen der bekanntesten Entwürfe Kieslers um und vermisst mit dem eigenen Körper in dieser sperrigen Kostümierung die „Raumstadt“.

Das Finale der Schau zeigt neben anderen großformatigen Projekten die Modelle eben dieses endlosen, stützenfreien Raumentwurfs. Den Abschluss bildet der „Shrine of the Book“ in Jerusalem, das einzige realisierte große Projekt des Ausnahmekünstlers. Zur Ausstellung erscheint ein ausgezeichneter, sehr umfangreicher Katalog.

„Friedrich Kiesler. Lebenswelten.“ Museum für angewandte Kunst, Ausstellungshalle. Bis 2. Oktober 2016.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.06.2016)

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