Kulturgeschichte: Wir Wallungsmenschen

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Der „österreichische Mensch“ ist ein freundliches Wesen, erklärt der Historiker William M. Johnston.

Die heimische Erziehung bringe geknechtete Neurotiker hervor, sagte Erwin Ringel, der Psychoanalytiker der „österreichischen Seele“; ganz anders sieht der „österreichische Mensch“ für den US-Amerikaner William M. Johnston aus. Er entsprießt ebenfalls einer Erziehungskultur, ist aber liebenswert: verträglich, versöhnlich, vermittelnd, tolerant.

Johnston hat diesen Menschen freilich auch nicht im Österreich von heute gefunden, sondern in alten Texten. Vor vier Jahrzehnten schrieb der Historiker mit „The Austrian Mind“ einen Klassiker österreichischer Kulturgeschichte, jetzt überrascht der 73-Jährige mit seinem neuen großen Werk „Der österreichische Mensch“ (Böhlau Verlag). In makellosem Deutsch analysiert Johnston die Versuche von Essayisten zwischen 1910 und 1967, das spezifisch „Österreichische“ zu erfassen. Er entdeckt so einen unbekannten Diskurs wieder. Denn neben berühmten Autoren wie Hofmannsthal, Musil oder Bahr finden sich vergessene Namen: etwa aus der Zwischenkriegszeit der Geograf Hugo Hassinger und der Landesschulinspektor Oskar Benda oder aus den 60ern der Historiker Alphons Lhotsky.

„Dienstaristokraten“

Dabei gehören sie zu den wenigen, die ohne ideologische Interessen nach der österreichischen Eigenart forschten. Alle drei finden das Einmalige im Habitus des k.k. Beamten oder auch „Dienstaristokraten“ (Johnston spricht vom „theresianischen Menschen“). Dieser Typ war das Produkt einer einheitlichen Ausbildung und diente dazu, zwischen den Regionen und Nationalitäten des Reichs zu vermitteln, die Monarchie am Leben zu erhalten. Deshalb habe er mit seinem Verschwinden ein Vakuum hinterlassen und Mitteleuropa in die Konflikte zwischen 1918 und 1989 gestürzt, meint Johnson. „Er“, ganz recht: Denn dieser „österreichische Mensch“ ist ein Mann, Frauen sind sowohl unter den Diskutanten als auch unter den Diskutierten so gut wie inexistent.

Ob er selbst an einen solchen „österreichischen Menschen“ glaube, wurde Johnston Mittwochabend bei einer Diskussion im Wiener Museum für angewandte Kunst gefragt. „Ich bin Historiker“, sagt Johnson. „Es ist nicht meine Aufgabe zu prüfen, ob die Behauptungen stichhaltig sind.“ Dann steuerte er aber doch Apodiktisches zur österreichischen Eigenart bei, etwa: „Österreich hat eine größere Vielfalt an menschlichen Typen als jedes andere Volk in Europa. Das ist mit ein Grund, warum das Drama in Österreich so spannend ist.“

Johnston ist auch überzeugt, dass am Begriff des „Wallungsmenschen“, den einer seiner Essayisten verwendet, etwas dran ist. Solche „leicht entzündbaren, donnernden Menschen“ seien ihm häufiger untergekommen als etwa in Frankreich, England oder Australien (wo Johnston lebt). Oder: „Wenn ich in Wien einen Vortrag halten will, möchten die Veranstalter ein Gespräch: Die Österreicher möchten mehr denn je verstanden werden, sie wollen, dass man ihnen zuhört.“

Zu guter Letzt: Österreich komme immer zu spät. Die „Deutschösterreicher“ seien das einzige Volk in Europa gewesen, das sich bis 1914 keine Gedanken über seine Kultur gemacht hätte – das sei typisch. Sämtliche Entwicklungen, wie Liberalismus oder Industrialisierung, seien verspätet nach Österreich gekommen. Diese Verspätung habe auch ihre guten Seiten: „Ein verspäteter Staat braucht Genies.“ Vor zwei Wochen habe man in Westungarn übrigens ein neues Standbild eingeweiht – von Kaiser Franz Joseph. „Wenn man so sehr verspätet ist, hat das schon wieder etwas Kreatives.“ sim

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.10.2009)

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