Alberto Giacometti: Der ins Unbekannte "Schreitende"

Giacometti
Giacometti(c) EPA (JUSTIN LANE)
  • Drucken

Die Welt hat mit Alberto Giacometti einen neuen "teuersten" Künstler.

Er war das Prunkstück in der Konferenzetage des Frankfurter Dresdner-Bank-Hochhauses. Die ideale Trophäe für eine Bankenkunstsammlung – ziert Alberto Giacomettis lebensgroßer Schreitender, „L'homme qui marche I“, doch auch den 100-Franken-Schein. Doch die Commerzbank, die 2009 die Dresdner Bank übernahm, sah das alles etwas kühler. Vergangenen Mittwoch kam die 1961 entstandene Bronzeplastik in London zur Auktion bei Sotheby's. Und sprengte die nüchternen Erwartungen.

Auf nur zwölf bis 18 Mio. Pfund geschätzt, kletterte der Preis während eines achtminütigen Gefechts anonymer Telefonbieter auf mehr als das Fünffache. Bei 74 Mio. Pfund kamen der Zuschlag und der Jubel: teuerstes bisher bei einer Auktion verklopftes Kunstwerk. Um eine umgerechnete Dollarkommastelle schlug der „Schreitende“ somit den seit 2004 führenden „Jungen mit Pfeife“ von Picasso.

Und plötzlich war nicht einmal mehr der Kontinent des Aufenthaltsorts einer der Hauptwerke Giacomettis bekannt. Die Versicherungssummen rasen ins für Museen unerschwingliche – und die Sicherheitsmaßnahmen für Giacomettis müssen weltweit erhöht werden.

Der Erlös zumindest, versichert die Dresdner Bank, soll wieder (zu einem unbekannten Teil) der Kunst zugutekommen, er fließt in die gemeinnützigen Stiftungen der Banken. Die Dresdner hat die Figur 1980 gekauft. Die Sammlung beider Banken gemeinsam umfasst rund 3000 Werke. 100 davon wurden jetzt verkauft. Andere, wie Warhols „Goethe“, kamen als Leihgaben in Museen wie das Städel in Frankfurt.

Doch genug der Zahlen – welche Geschichte steckt hinter dem jüngsten Rekordkunstwerk? Giacomettis „Schreitende“ sind Ikonen seines Spätwerks. Zwar begann er schon in den 1930er-Jahren, als sich der 1901 in einem Schweizer Dorf in eine Künstlerfamilie Geborene in Paris den Surrealisten anschloss, die Proportionen seiner Figuren unnatürlich zu längen. Doch erst nach 1945 fand er zu seiner typischen Formensprache. Die ausgemergelten, zerbrechlich wirkenden Bronzefiguren wirken so ausgesetzt, so isoliert und verloren in einer leeren Umwelt ohne Orientierungsmöglichkeit, dass sie schnell als Symbol für den zerrütteten Zeitgeist der Nachkriegsjahr galten.

Bei einem Denkmalprojekt für den 1941 erschossenen französischen Widerstandskämpfer Gabriel Péri tauchte die Figur des Schreitenden bereits das erste Mal auf. Interessant ist, dass Giacometti immer nur Männer schreiten ließ, Frauen stellte er dagegen stillstehend, wartend dar.

Der versteigerte „Schreitende“ ist einer von sechs Güssen, die Giacometti 1960/61 für das erste moderne Kunstprojekt in New Yorks Finanzbezirk anfertigte, für den Chase Manhattan Plaza.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.