World Press Photo: Ist das ein Argument für den Krieg?

(c) AP (Jodie Bieber)
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Das Portrait einer Afghanin mit abgeschnittener Nase ist Foto des Jahres 2010. Das „Time“-Cover wird nun erneut eine Debatte auslösen.

Die Aussage des Juryvorsitzenden mag banal klingen. Aber sie bringt die Entscheidung der Jury griffig auf den Punkt. Sie hätten sich für das Foto von Bibi Aisha entschieden, weil es so einprägsam sei. „Es ist ein Bild, das man nur kurz beschreiben muss – etwa so: ,Du weißt schon, das Foto von dem Mädchen, das...', – und jeder hat es vor sich“, sagt David Burnett. Er spricht für die 19-köpfige Jury aus Reportern und Fotoredakteuren, die aus 108.059 eingereichten Pressebildern die besten des Jahres gekürt haben.

Das Bild des Jahres 2010 ist das Porträt der 18-Jährigen Bibi Aisha, die den Betrachter ansieht – anstelle ihrer Nase klafft ein Loch. „Sie sieht so würdevoll aus, so ikonisch“, sagt Ruth Eichhorn, Jurorin und Fotochefin des Magazins „Geo“. Aisha, die eigentlich gar nicht so heißt und ihren echten Namen geheim hält, wird mit zwölf Jahren von ihrer Familie an einen Taliban-Kämpfer verschenkt, um einen Stammeskonflikt beizulegen. Ihr Onkel tötete einen Mann eines anderen Clans, sie war das Versöhnungsgeschenk. Sie lebt wie eine Sklavin an der Seite dieses Mannes – bis sie 2009 zu fliehen versucht. Zur Strafe schneidet ihr der Mann Nase und Ohren ab, lässt sie in den Bergen ihrer Heimatprovinz Oruzgan zurück. Die junge Frau sagt später in Interviews: „Es fühlte sich an, als hätte ich kaltes Wasser in der Nase.“ Sie schleppt sich in ihr Elternhaus, der Vater bringt sie in ein Frauenhaus in Kabul.

„Kriegspornografie“?

Das Bild des Jahres 2010 zeigt nicht nur eine Frau, es wurde auch von einer Frau gemacht: Die südafrikanische Fotografin Jodi Bieber hat Aisha im Frauenhaus entdeckt und fotografiert. Kurz darauf, am 1.August, war ihr Foto auf dem Titel des US-Magazins „Time“. Darunter der Satz: „Was geschieht, wenn wir Afghanistan verlassen.“ Das Cover löst eine Debatte aus. Das Magazin hätte die Geschichte der jungen Frau als Argument für die Fortsetzung des Krieges in Afghanistan missbraucht. Der Leser werde durch die Bildzeile manipuliert. Auch das Wort „Kriegspornografie“ fällt. „Time“-Chefredakteur Richard Stengel wehrt sich gegen die Vorwürfe.

Die Fotografin Bieber ist sich der Macht des Bildes bewusst. Auch wenn sie selbst keinerlei Kriegspropaganda damit machen wollte, sagt sie: „Wie man das Bild liest, hängt davon ab, wo man selbst steht.“ Sie habe ein Foto von einer jungen Frau machen wollen, der Schlimmes widerfahren sei. Biebers Foto ist auch ein Zitat: 1985 entstand ein ähnliches Porträt. Es zeigt das afghanische Flüchtlingsmädchens Sharbat Gula mit auffallend klaren, grünen Augen. Bieber gibt zu, jenes Bild, mit dem das Magazin „National Geographic“ große Aufmerksamkeit erregte, bei der Aufnahme ihres Fotos im Kopf gehabt zu haben.

Aisha hat von dem Foto profitiert. Im Herbst erhielt sie eine Nasenprothese und darf jetzt zum ersten Mal in ihrem Leben in die Schule gehen. Die Debatte rund um ihr Bild könnte nun wieder aufflammen. Verantwortlich dafür ist die Jury der World Press Photos, die das Bild erneut in den Mittelpunkt der Weltaufmerksamkeit gerückt hat.

Das Bild nach dem Bild

Die Geschichte von Bibi Aisha hat eine positive Wendung genommen. Im Oktober 2010 erhielt sie in Kalifornien eine Nasenprothese. Die heute 19-Jährige wurde beim Versuch, vor ihrem Mann zu fliehen, geschnappt. Zur Strafe schnitt er ihr Nase und Ohren ab. Ihr Vater brachte sie in ein Frauenhaus, wo die Südafrikanerin Jodi Bieber sie fotografierte. „Time“ hob das Bild am 1. August 2010 auf die Titelseite.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.02.2011)

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