"Solitaire" oder "solidaire"? Camus' Revolten-Romane

Themenbild Buch
Themenbild Buch(c) Erwin Wodicka
  • Drucken

„Willst du Philosoph sein, schreib Romane“, sagte Albert Camus – seine erschüttern uns heute noch. „Der Fremde“ schlug im besetzten Frankreich ein und machte die Philosophie des Absurden berühmt.

Beginnen wir mit dem Ende. Es führt zum Anfang. Am 3. und 4. Jänner 1960 fuhr Albert Camus mit seinem Verleger Michel Gallimard und dessen Frau und Tochter von seinem Landhaus im südfranzösischen Ort Lourmarin nach Paris. Kurz vor Ende der Reise platzte ein Reifen des viel zu schnell fahrenden Sportwagens. Das Auto prallte gegen einen Baum. Camus war sofort tot, der Fahrer starb fünf Tage später, die Frauen blieben unverletzt. Im Auto fand man einen unfertigen Roman.

Der autobiografisch anmutende Text „Der erste Mensch“ setzt sich mit Kindheit und Jugend des Autors in Algerien auseinander. Mit dem Vater, einem kleinbürgerlichen französischen Kolonisten, der im Ersten Weltkrieg fiel, als Albert noch nicht ein Jahr alt war. Mit der schweigenden, aus Spanien stammenden Mutter, die nicht lesen und schreiben konnte, die Probleme beim Hören und Sprechen hatte, die nach dem Tod ihres Mannes mit der dominanten Großmutter die beiden Söhne aufzog, als Putzfrau arbeitete. Die vom Sohn verehrt und geliebt wurde. Camus beschrieb die Armut der frühen Jahre, aber auch die Sehnsucht nach dem kargen Land, das er schon in den Essays „Hochzeit des Lichts“ (1938) und „Heimkehr nach Tipasa“ (1954) gefeiert hatte.

Erst 1994 sollte „Le Premier Homme“ postum erscheinen – eine Sensation jenes Autors, der damals wie heute in Umfragen als wichtigster französischer Schriftsteller des 20.Jahrhunderts gilt. Es wurde ein Bestseller, wie „Die Pest“ (1947), „Der Fremde“ (1942) und „Der Fall“ (1956). Recht schmal blieb dieses Werk, zu dem weitere kurze Erzählungen, Dramen, Essays, Tagebücher und journalistische Arbeiten zählen. Man fühlt sich um mehr betrogen, durch diesen Tod mit knapp 46 Jahren. Camus spürte 1959 wieder Inspiration, nachdem er, bereits weltberühmt, gezweifelt hatte, ob er noch schreiben könne. Auch das Theater, Leidenschaft seiner Jugend, hatte ihn wieder engagiert. Der neue Roman sollte eine frische Phase der Kreativität eröffnen. Der Tod kam dazwischen.

Bei Camus fand man ein unbenutztes Eisenbahnticket, Gallimard hatte ihn zur Autofahrt überredet. Das passt zur Philosophie (oder Lebenseinstellung), die der Autor früh entwickelte. Als er im Krieg durch „Der Fremde“ und den gleich darauf veröffentlichten Essay „Der Mythos von Sisyphos“ in Frankreich berühmt wurde, galt er als Proponent der Philosophie des Absurden. Da war er Mitte zwanzig, bewährt im Journalismus und schon aktiv im Widerstand gegen die deutschen Besatzer und ihre Kollaborateure.

Der „gefühllose“ Meursault.
„Ich werde die Sensation nie vergessen, die die Veröffentlichung von ,L'Étranger‘ im besetzten Frankreich hervorrief“, erinnert sich Morvan Lebesque, der in Camus' Todesjahr dessen erste Monografie auf Deutsch publizierte. Präzis, kalt, ohne Wertung, also ganz gleichrangig, berichtet Protagonist und Erzähler Meursault vom Begräbnis der Mutter, einer Liebschaft, der Begegnung am Strand mit einem Araber, von dem er sich bedroht fühlt und den er, irritiert vom Blitzen der Sonne, mit einem Revolver tötet. Viermal schießt er noch auf die Leiche. „Es war wie vier kurze Schläge, mit denen ich an das Tor des Unglücks hämmerte.“

Im zweiten Teil dieses Jahrhundertbuchs geht es um Meursaults Verurteilung zum Tode. Nicht die Tat, sein scheinbar gefühlloses Verhalten führt dazu. Dabei ist der Protagonist, der zu einer fast zärtlichen Beschreibung der Natur fähig ist, vor allem ehrlich, ein konsequenter Vertreter der Philosophie des Absurden.

Das Schlüsselwort. Absurd ist nicht die Welt oder der Mensch, sondern die Diskrepanz zwischen dem menschlichen Geist und der Undurchdringlichkeit der Welt. Einmal kommt das Schlüsselwort im Buch vor, als der Priester den Delinquenten zur Beichte drängt. Da platzt Meursault der Kragen. Es gebe kein Jenseits, es gebe nur diese Welt. Nichts wäre von Bedeutung. Seltsame Konjunktive: „Aus der Tiefe meiner Zukunft stiege während dieses absurden Lebens, das ich geführt hätte, ein dunkler Atem zu mir auf, durch Jahre hindurch, die noch nicht gekommen wären, und dieser Atem machte auf seinem Weg all das gleich, was man mir in den genauso unwirklichen Jahren böte, die ich lebte.“ Meursault geht gefasst in den Tod.

Sisyphos ist bei Camus sogar glücklich. Dieser Mann wälzt ständig aufs Neue seinen Stein den Berg hinauf, obwohl er weiß, dass er wieder hinunterrollen wird. Sein Kampf „genügt, ein Menschenherz auszufüllen“, die Revolte selbst ist wichtiger als das Ziel.

Wie die Revolte über das „höhnische Trotzdem“ des Einzelnen zum Mitmenschen führt, liest man am besten im Roman „Die Pest“ nach – gemäß Camus' Diktum: „Man denkt nur in Bildern. Wenn du Philosoph sein willst, schreib Romane.“ In der Küstenstadt Oran bricht die Pest aus. Der Arzt Rieux, der sich am Schluss als Erzähler enthüllt, lehnt sich gegen die Absurdität des Todes auf. Rieux ist ein Skeptiker, ohne Illusionen kämpft er um Menschenleben, aber er kämpft, während Jesuit Paneloux das Gottesgericht gegen die Sünder predigt.

Rieux ist Camus' „Mensch in der Revolte“ („L'homme révolté“), wie ein nach dem Krieg erschienener Essay heißt. Er konfrontiert sich mit dem Absurden, gewinnt dadurch eine neue Freiheit und Energie. Camus, der sich selbst eine irrationale Leidenschaft für die Gerechtigkeit zuschrieb, leitete daraus aber kein „Alles ist erlaubt“ ab, sondern die Solidarität im Zeichen des gemeinsamen Ausgesetztseins. Das macht Camus statt zum Nihilisten zum Humanisten. Das Standhalten dem Absurden gegenüber sah er als beständige Anstrengung im Denken und Handeln.


Zerwürfnis mit Sartre.
„Der Mensch in der Revolte“ führte zum Bruch mit Sartre, weil Camus die sowjetischen „KZs“ geißelte. Werde die Revolte zur politischen Heilslehre, schrieb der politisch stets engagierte Autor, ziehe sie den Terror nach sich, im Glauben, „dass eines noch unsichtbaren Tages das Ende alles rechtfertige“. Maßstab für ihn waren die Bedürfnisse des Einzelnen in der Gegenwart. Für Sartre ein inkonsequenter Humanismus.

Ein Solitär ist der Bericht „Der Fall“ („La Chute“), der ausschlaggebend für die Verleihung des Nobelpreises 1957 war. Es ist der Monolog des „Bußrichters“ Jean-Baptiste Clamence. In einer Kneipe betreibt er Gewissenserforschung. Der Todessturz einer jungen Frau hat ihn aus der Bahn geworfen. Er hat bei diesem „Fall“, den er als Einziger beobachtete, keine Anstalten zur Rettung gemacht. Nun quält er sich in negativer Theologie mit seiner Lebensbeichte. Clamence ist der Antagonist zum schweigsamen Dulder Meursault, ein satanischer Charakter, der den Leser in seine Abgründe hinunterführt und zu Fragen von Schuld, Sein und Fassade, Wahrheit, Freiheit.

„La Chute“ sollte ursprünglich die erste Novelle von „Das Exil und das Reich“ (1957) sein. In diesen sechs späten, luziden Prosastücken geht es noch einmal um die großen Fragen, auch um das Dasein des Künstlers. Eines erzählt vom Maler Jonas, der sich vor der Gesellschaft in einen Verschlag zurückgezogen hat, wo er an seinem großen Werk arbeitet. Man findet dort eine weiße Leinwand, auf die in winziger Schrift ein Wort gekritzelt wurde. Es ist nicht zu erkennen, ob Jonas „solitaire“ oder „solidaire“ geschrieben hat.

Zwei Wörter, zwischen denen sich die innere Welt des Albert Camus aufspannt. Er liebte das Leben, die „zärtliche Gleichgültigkeit der Welt“, ebenso wie die Gemeinschaft der in sie Hineingeworfenen. Nach zehn Lieblingswörtern gefragt, antwortete er: „Die Welt, der Schmerz, die Erde, das Lachen, die Menschen, die Wüste, die Ehre, das Elend, der Sommer, das Meer.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.11.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Der franzoesische Philosoph Michel FOUCAULT in seiner Wohnung. Paris. Frankreich. 1978
Literatur

Albert Camus? Da lachte Foucault nur

Frankreichs Intellektuelle schmähten und ignorierten Camus lang. Für die Leser war er dennoch der Größte.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.