Gaarder: „Wir wissen nichts über die Zukunft!“

(c) Niklas Lello (frei)
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„Sofies Welt“ machte Jostein Gaarder weltberühmt, mit „Noras Welt“ appelliert der Norweger nun an die Jugend, das Klima zu retten. Heute tritt der Geschichtenerzähler in Wien auf.

Die Presse: Fällt Ihr Name, folgt meist ein bewunderndes „Ah, der Autor von ,Sofies Welt!‘“. Dabei ist das Buch 22 Jahre alt!

Jostein Gaarder: In Norwegen, Deutschland, England oder Amerika ist es so, aber etwa in Italien, Spanien, Südamerika machen alle Bücher zusammen meinen Ruf aus, da gelten auch „Das Kartengeheimnis“ oder „Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort“ als Ikonen.

Ihr neues Buch heißt „2084 – Noras Welt“ .

Der Titel ist nicht von mir! Auf Norwegisch heißt es nur „Anna“. Aber der Hanser Verlag hatte auch ein Buch „Anna und Anna“, eine dritte konnten sie nicht brauchen.

Es geht zwar ums Klima statt um Philosophie, dennoch erinnert „Noras“ an „Sofies Welt“. Wollten Sie bewusst anknüpfen?

Überall auf der Welt hat man mich gefragt: Wenn Sie „Sofies Welt“ noch einmal schreiben würden, würden Sie etwas anders machen? Ich sagte, ja, ich würde auch über fernöstliche Philosophie schreiben, und über das Klima. Eine andere häufige Frage war: Sind die Fragen der Philosophie ewig? Die Antwort: Viele sind es. Aber manchmal kommen ganz neue auf, und die heute wichtigste ist: Wie können wir die Lebensbedingungen auf der Welt erhalten? „Noras Welt“ ist eine Art Anhang, eine kleine Schwester von „Sofies Welt“. Ich fühlte mich dazu verpflichtet.

Warum 2084? Orwells „1984“ ist so anders.

Auch das hat der Verlag gemacht! Bei mir war das magische Datum der 12.12. 2012, Annas 16.Geburtstag. Die Zeit, von der sie träumt, siebzig Jahre später, ist 2082. Aber ich war mit der Änderung einverstanden. Nur bitte sehen Sie die Geschichte nicht als Dystopie! Es hat auch etwas von einem Evangelium, die Botschaft, es ist nicht zu spät. Ich habe für das Buch mit den besten Wissenschaftlern gearbeitet, trotzdem ist es lächerlich zu glauben, wir wissen etwas über die Zukunft. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass sie mehr denn je in unserer Hand ist. Ich erzähle nur von der Traumwelt eines Mädchens, das beim Aufwachen merkt, dass sich etwas ändern muss. Was sie träumt, braucht nicht passieren, darf nicht passieren!

Sie waren lange Lehrer, haben Sie da begonnen, wichtige Informationen in Geschichten zu verpacken?

Ja, gute Lehrer sind gute Geschichtenerzähler. Unser Gehirn ist für Geschichten gemacht. Wenn Sie mir Geschichten über Wien erzählen, merke ich mir das ein Leben lang.

In Ihrem Buch „Der Geschichtenverkäufer“ geht es um einen Mann, der schon als Kind die fantastischsten Geschichten erfand. Waren Sie auch so?

Ich war sehr fantasievoll. Mit zehn, elf Jahren schrieb ich über ein Kind und einen lebendigen Schneemann, der sich nie bewegte, wenn das Kind ihn den Eltern zeigte. Der Lehrer sagte mir daraufhin, ich müsse meine Fantasie zügeln.

Mit „Sofies Welt“ waren Sie ein Pionier, was das Philosophieren mit Kindern angeht. Heute gibt es in Wien schon Volksschulen, die das als Freifach anbieten.

In Norwegen haben wir ein Programm „Philosophie mit Kindern“, da werden Lehrer speziell darin geschult, mit Kindern auf sokratische Weise über Philosophie zu reden. Kinder haben nicht so viel Erfahrung wie Erwachsene, aber ihre Vernunft kann schon weit entwickelt sein. Sie sagen zum Beispiel schon sehr früh: Das ist ungerecht. Ich finde, Philosophieren muss kein eigenes Schulfach sein, es sollte in allen Bereichen der Schule eine Haltung sein, und Lehrer sollten Philosophie lesen, egal, was sie unterrichten.

Aber wie viel Wahrheit und wie viel elterliche Unwissenheit ist Kindern zumutbar?

Da gibt es keine Regeln, Kinder sind so verschieden, Eltern auch. Ich habe drei Enkelkinder und versuche, wirklich ehrlich mit ihnen zu sein. Wenn mich ein Kind fragt, ob es ein Leben nach dem Tod gibt, sage ich immer: Ich weiß es nicht – ich glaube es nicht wirklich, aber ich hoffe es. Eine Enkelin verlor mit vier Jahren ihre Oma. Wir haben ihr gesagt, siehst du die Sterne? Einer davon ist Oma. Das kann man auch als Metapher verstehen.

Tagespolitik liegt Ihren Büchern fern. Aber 2006 wurden Sie international heftig attackiert, weil Sie in der Zeitung schrieben, Israel habe mit seiner Politik der „Apartheid“ sein Existenzrecht verwirkt. Wie stehen Sie heute zu diesem Text?

Ich schrieb ihn an dem Tag, als im Libanon eine Schulklasse durch einen israelischen Bombenangriff umkam. Und es ist das einzige Mal, dass mir etwas, was ich geschrieben habe, später leid tat. Nicht die Kritik selbst – es muss erlaubt sein, Israels Politik zu kritisieren und zornig zu sein. Aber ich wünschte, ich hätte gewisse unbedachte Ausdrücke nicht geschrieben, wie zum Beispiel, dass Israel nie dazulernt. In Norwegen konnte ich eine Woche später einen zweiten Artikel veröffentlichen, dass es mir sehr, sehr leid tue, wenn man meinen Text antisemitisch verstehe, und dass ich nur die aktuelle Politik gemeint habe. In Deutschland, Amerika oder Israel wurde dieser zweite Artikel nicht mehr veröffentlicht.

Im „Weihnachtsgeheimnis“ bekommt ein Bub einen besonderen Adventkalender, der ihn zurück ins Heilige Land zu Christi Geburt führt. Wie religiös sind Sie?

Ich habe Religionswissenschaft studiert und mich viel mit der Bibel beschäftigt, auch Texte über das Christentum und andere Religionen für Schulen geschrieben. Ich sehe mich als religiös, ohne Glaube an eine Offenbarung. Für mich gibt es keinen moralischen Lehrer, der Jesus gleichkommt, die Bergpredigt ist meine Ethik. Und wenn ich in der Natur bin, mache ich pantheistische Erfahrungen. Ich erlebe das Leben als Mysterium, als Rätsel, das ist eine Art religiöser Erfahrung.

Wie kommen Sie in Oslo zur Natur?

In fünf Minuten bin ich im Wald, und das ist mir wichtig. Ich kann meine Gedanken nicht ohne meinen Körper bewegen. Ich gehe sehr lange, bevor ich zu schreiben beginne.

JOSTEIN GAARDER BEIM LESEFEST

Bis Sonntag sind noch unzählige Autoren im Rahmen der Lesefestwoche in Wien zu erleben, ab Donnerstag auch auf der Internat. Buchmesse Buch Wien (Messe, HalleD). Näheres: buchwien.at.

Jostein Gaarder schrieb außer „Sofies Welt“ (1991) etliche äußerst erfolgreiche, oft philosophische Bücher v.a. für Kinder, die aber auch Erwachsene begeistern: etwa „Das Kartengeheimnis“, „Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort“, „Das Weihnachtsgeheimnis“, „Der seltene Vogel“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.11.2013)

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