Booker Prize: Ein Verbrechen des Fleisches

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Booker Prize für kompromissloses Meisterwerk: Anne Enrights irische Familiensaga „The Gathering“.

„Ich würde gerne aufschreiben, was im Haus meiner Großmutter in dem Sommer geschah, als ich acht oder neun war, aber ich bin nicht sicher, ob es wirklich geschehen ist“ – so beginnt die 45-jährige Irin Anne Enright ihren vierten Roman. Nichts als das Übliche? Zweifelhaftigkeit der Erinnerungen, die heute schon obligatorische Eingangs-Rhetorik in diesem Genre; dunkles Geheimnis, auch nichts Neues, noch dazu offenbar das beliebteste schwarze Loch jeder Familiengeschichte: ein, wie man im vierten Satz erfährt, „Verbrechen des Fleisches“, es hängt mit dem Bruder der Erzählerin zusammen, der damals noch ein Kind war ...

Soll man sich dieser Erzählerin anvertrauen? Ja, man soll! Und man wird: Am Dienstag Abend hat die Jury des britischen Man Booker Prize, einer der weltweit wichtigsten Literatur-Auszeichnungen, ihre überraschende Wahl bekannt gegeben; überraschend nicht, weil „The Gathering“ anderen Kandidaten, darunter Ian McEwans auch in der deutschen Übersetzung („Am Strand“) so erfolgreichem Roman „On Chesil Beach“, literarisch unterlegen wäre; sondern weil Anne Enright trotz einiger Literaturpreise bisher eher ein Insider-Tipp war. Ihr Roman „The Gathering“ hatte seit Erscheinen im Mai laut „Financial Times“ noch keine 3000 Exemplare verkauft.

Späte Erbin von du Maurier und Brontë

„The Gathering“ („das Treffen“), heißt der Roman, die Deutsche Verlags-Anstalt (DVA) will ihn 2008 unter dem Titel „Das Familientreffen“ herausbringen. Enright selbst nennt die Erzählung ein „intellektuelles Gegenstück zu einer Hollywood-Schnulze“, sie liest sich, als ob Daphne du Maurier und Emily Brontë im Heute angekommen wären – wohl nicht zufällig heißen die zwei Töchter der Erzählerin Rebecca und Emily. Stimmungsvoll, dabei vielfach intellektuell gebrochen erzählt die Autorin von der Zusammenkunft der Großfamilie Hegarty in Dublin zur Totenwache: Liam, ein Bruder der Erzählerin, hat Selbstmord begangen. Die Erzählerin bohrt bei ihrer Wurzel-Behandlung dieser Katastrophe bis in die Lebensgeschichte der Großmutter – aber auch tief in das eigene (Ehe-)Leben hinein. „Ich bin in mein eigenes Leben gefallen, monatelang. Und jetzt bin ich dabei, aufzuschlagen“, endet der Roman. Die Wucht dieses Aufschlags verspürt man beim Lesen geradezu körperlich.

LEXIKON: Booker Prize

Nadine Gordimer, Salman Rushdie, John M. Coetzee, Margaret Atwood oder Ian McEwan (1998 für „Amsterdam“) haben den wichtigsten britischen Literaturpreis bereits erhalten.Seit 1969wird er einmal jährlich für einen englischsprachigen Roman aus dem Commonwealth oder Irland vergeben. 2005 wurde nach seinem Vorbild der Deutsche Buchpreis geschaffen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2007)

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