Marienthal-Studie: „Einstweilen wird es Mittag“

(c) Archiv für Gechichte der Soziologie in Österreich
  • Drucken

Die berühmte Marienthal-Studie ist 75 Jahre alt: eine zum Klassiker gewordene Schrift über das – triste – Leben in der Arbeitslosigkeit.

Als „das Beste, was bisher über die Wirkung der Arbeitslosigkeit geschrieben wurde“, wurde die Studie in ihrer ersten Rezension im Erscheinungsjahr 1933 bezeichnet. Diese Einschätzung Käthe Leichters kann man füglich heute noch gelten lassen. Dass auch nach 75 Jahren das Interesse an der berühmten Untersuchung „Die Arbeitslosen von Marienthal“ ungebrochen ist, darüber besteht kein Zweifel. So ist erst im vergangenen Jahr in Polen die insgesamt bereits achte Übersetzung des Buchs erschienen. Die für eine sozialwissenschaftliche Einzelstudie erstaunliche Anzahl an Übertragungen ist jedoch nicht die einzige Auffälligkeit in der Rezeptionsgeschichte des „soziographischen Versuchs“ (so der Original-Untertitel): In den Achtzigerjahren wurde ihm eine Ehre zuteil, die man sonst eher mit literarischen Werken in Zusammenhang bringt – er wurde verfilmt.

Statistik und Befragung

Eine gewisse literarische Qualität ist denn auch einer der Gründe, die Reinhard Müller in seinem pünktlich zum heurigen Jubiläum erschienenen Dokumentarband „Marienthal“ (Studienverlag) für den außerordentlichen Erfolg der Marienthal-Studie ins Treffen führt. Diese partizipiert, könnte man sagen, in gewisser Weise am traditionellen Genre des Reiseberichts. Eine Gruppe von Wissenschaftlern aus Wien verschlägt es in eine andere Welt, eine Industriekolonie von Gramatneusiedl, und sie erzählt dem Leser, was sie dort vorfindet. Die lange Vorgeschichte dieses durch die Studie zu trauriger Berühmtheit gelangten Ortes penibel recherchiert und aufgezeichnet zu haben, darf nun der Grazer Soziologe Müller für sich in Anspruch nehmen: Von 1100 n.Chr. bis in die Gegenwart reicht seine Chronologie, in der man die große Geschichte gewissermaßen aus der dörflichen Froschperspektive mitverfolgen kann. Schließlich zeichnet Müller das allmähliche Wachsen der 1820 erstmals erwähnten Marienthaler Textilfabrik ebenso nach, wie erstmals auch die Hintergründe ihrer Krise und Stilllegung. Sie führte zu jener Massenarbeitslosigkeit, welche die Wiener Wissenschaftler bei ihrer Ankunft im Jahr 1931 empfing.

Die angeblich von Otto Bauer angeregte Erforschung des Lebens unter den Bedingungen der Arbeitslosigkeit bildete damals jedoch nur eines von zwei Forschungszielen. Ein zweites bestand in der Methode. Es ging der ungewöhnlich jungen Gruppe um Marie Jahoda (zu Projektbeginn erst 24) und Paul Lazarsfeld darum, einen sozialpsychologischen Tatbestand umfassend und durch eine möglichst breite Palette von wissenschaftlichen Techniken zu untersuchen. Hierin erlangte die Studie Mustergültigkeit – ein zweiter Grund für ihren Erfolg. Durch Kombination von Statistik, teilnehmender Beobachtung und Dokumentenanalyse ebenso wie persönlicher Befragungen und Tests gelang es, eine Lücke zwischen trockener Statistik und Momenteindrücken der Sozialreportage zu schließen. Wahlstatistiken, Lebensgeschichten, Inventare der Mahlzeiten, Analysen von Bibliotheksfrequenzen und Schüleraufsätze verdichten sich zu einem komplexen Bild von den Lebensbedingungen in einer existenziellen Extremsituation.

Apathie statt Revolution

So wurden die Arbeitslosen von den Forschern dazu angehalten, ihre alltägliche Zeitverwendung zu dokumentieren. Eine Zeile aus dem Zeitverwendungsbogen eines 33-Jährigen ist später immer wieder plakativ zitiert worden. Für die Stunde zwischen zehn und elf Uhr hatte er als Aktivität eingetragen: „Einstweilen wird es Mittag.“ „Zwischen den wenigen wirklichen Beschäftigungen, dort, wo im Bogen steht: ,Einstweilen wird es Mittag‘ – liegt das Nichtstun, der völlige Mangel einer sinnvollen Zeitausfüllung“, heißt es in der Marienthal-Studie dazu. Sie macht eindrucksvoll klar, wie sehr das Gefühl, unbegrenzt Zeit zu haben, die Inangriffnahme jedes Vorhabens bereits im Ansatz zu ersticken droht und wie sehr die durch die wirtschaftliche Katastrophe bewirkte Totalisierung der Freizeit in Zeitzerfall und Sinnverlust mündet. In dieser politischen Dimension der Untersuchung wäre ein dritter Grund für ihre öffentliche Anerkennung zu erblicken. Die historische Debatte darüber, ob Arbeitslosigkeit in die Apathie oder zur Revolution führe, ist hier eindeutig entschieden worden.

Durchbruch erst nach Übersetzung

Zu einem „weltweiten Klassiker der empirischen Sozialforschung“, wie Müller völlig zurecht schreibt, ist die Marienthal-Studie bei alledem erst durch die englischsprachige Übersetzung aus dem Jahr 1971 avanciert. Dass beinahe sämtliche Mitwirkende wenige Jahre nach der Erstveröffentlichung aus Österreich emigrieren hatten müssen, gehört mit zur Geschichte der „Arbeitslosen von Marienthal“. Auch übrigens, dass die Autoren (oder deren Erben) bis heute weder Honorar noch Tantiemen für ihre Schrift erhalten haben.

MARIENTHAL: Ein Klassiker

Die Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ wurde von einem siebzehnköpfigen Projektteam im März 1933 abgeschlossen.

Reinhard Müller: Marienthal. Das Dorf – Die Arbeitslosen – Die Studie.
424 S., geb., 39,90 Euro (Studienverlag)

http://agso.uni-graz.at/marienthal/

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.02.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.