Odyssee einer somalischen Athletin

Hat sich in die junge Samia und ihr Leben versetzt: der Journalist und Autor Giuseppe Catozzella.
Hat sich in die junge Samia und ihr Leben versetzt: der Journalist und Autor Giuseppe Catozzella.Elisabetta Claudio
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Die Sprinterin Samia Yusuf Omar nahm 2008 an den Olympischen Spielen teil. Vier Jahre später ertrank sie als Bootsflüchtling im Mittelmeer. Ein Roman arbeitet ihr Schicksal auf.

Wie viele Menschen bereits auf ihrer Flucht nach Europa im Mittelmeer ertrunken sind, wissen wir nicht. Wir kennen nicht ihre Namen, nicht ihre Geschichten. Der Roman „Sag nicht, dass du Angst hast“, der auf einer wahren Begebenheit beruht, gibt einer der ganz großen Tragödien unserer Zeit ein Gesicht: jenes der jungen Athletin Samia Yusuf Omar. Die Sprinterin nahm für ihr vom Bürgerkrieg zerrissenes Land Somalia 2008 an den Olympischen Spielen in Peking teil – das Foto vom dünnen Mädchen, das als Letzte durchs Ziele rannte, rührte damals Millionen Menschen. Im April 2012 ertrank Samia vor Malta. Sie hatte versucht, in einem Schlepperboot Europa zu erreichen, um auch bei den Londoner Spielen mitlaufen zu können. Die somalische Regierung hatte ihr die Ausreisedokumente verweigert.

Basierend auf langen Gesprächen mit Samias Schwester erzählt der Journalist und Schriftsteller Giuseppe Catozzella die Kindheit und Jugend der Läuferin im kriegsgeplagten Mogadischu. Er versetzt sich in die lebhafte Somalierin und beschreibt in einer wunderbar leichten Sprache ihr Leben – so, wie es Samia vielleicht selbst getan hätte: wie das kleine Mädchen mit ihrem Freund Ali an Checkpoints und Scharfschützen vorbei um die Wette läuft, von den Eltern, die sich dem ethnischen und religiösen Hass widersetzen und die Träume ihrer Kinder ernst nehmen, und wie die „kleine Kriegerin“, so nennt sie ihr Vater, früh erkennt, dass sie eine Athletin werden – und gewinnen will. Um zu beweisen, wie stark muslimische, somalische Frauen wirklich sind.


Laufen mit Burka. Und so verfolgt Samia mit zusammengebissenen Zähnen ihren Traum. Und läuft. Sie siegt bei den Afrika-Meisterschaften, schafft es zur Olympiade nach Peking. Trotz Dauerrepressalien der Islamisten trainiert sie täglich: schweißtriefend unter der Burka oder mitten in der Nacht. Der Mord an ihrem Vater und der Verlust ihres Freundes stärken nur ihre Entschlusskraft.

Samia flieht nach Äthiopien, dort wartet ein professioneller Trainer auf sie. Doch auch hier kann sie nicht „legal“ laufen, denn die somalischen Behörden verweigern ihr die notwendigen Papiere. Und so sieht sie sich zum drastischen Schritt gezwungen: Sie begibt sich auf die gefürchtete „Reise“ nach Europa, die lebensgefährliche Odyssee durch Wüste und Meer. Gemeinsam mit Dutzenden Menschen reist die junge Frau wochenlang in einem Jeep. Die Schlepper behandeln die Flüchtlinge wie „lästige Ware“: Sie werden geschlagen, bekommen kaum zu trinken und zu essen. Wer schwächelt, sich beschwert oder kein Geld hat, wird zurückgelassen.

Der Roman beschreibt, wie es für Samia Etappe um Etappe härter wird. Wie sie sich als Flüchtling schämt und versucht, gegen die Entwürdigung anzukämpfen. Erst, als die junge Frau Tripolis erreicht und mit Dutzenden anderen in das enge Boot steigt, kommt die Hoffnung zurück. Ihr Ziel, Europa, wird Samia jedoch nie erreichen.

Catozzella erzählt Samias Geschichte ohne Pathos und Kitsch. Im Vordergrund steht der eiserne Wille einer jungen Sportlerin und ihr Wunsch, ihr Leben selbst bestimmen zu können. Catozzella hilft aber auch zu verstehen, was Menschen wie Samia zur Flucht nach Europa bewegt, welche Opfer sie bringen müssen, um diesen Schritt zu wagen. Der Journalist zieht den Leser mit voller Kraft hinein in das kurze Leben der Athletin – sodass uns ihre Tragödie nicht mehr loslässt: Wer diesen Roman gelesen hat, wird die Fotos der voll beladenen Boote im Mittelmeer mit anderen Augen sehen.

Neu Erschienen

Giuseppe Catozzella
„Sag nicht, dass du Angst hast“
übersetzt von
Myriam Alfano
Knaus Verlag
247 Seiten
15,50 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.10.2014)

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