Kinderliteratur: Große Kunst für Kleine

SCHWEIZ HOTZENPLOTZ PREUSSLER
SCHWEIZ HOTZENPLOTZ PREUSSLEREPA
  • Drucken

Mira Lobe schrieb längere Sätze als viele Krimileser sie vertragen. Warum lieben Kinder "Das kleine Ich bin ich" oder "Die Geggis"? Über das Geheimnis großer Kunst für kleine Leute.

Auch Anarchismus kann ganz schön anstrengend sein. Glaubt man Janosch, dem Anarchisten unter den Kinderbuchklassikern, ist er nur aus Irrtum Künstler geworden, weil er nicht wusste, wie viel Arbeit es ist. Aber das unentwegte Anzweifeln, Umschreiben, Eindampfen merkt man seinen Büchern nicht an. Das meiste wirkt wie spontane Eingebung, ebenso spontan illustriert – Verse wie „Der Wolf im Pelz beißt dem Major ein kleines Loch ins rechte Ohr“ etwa, oder „Der Esel geht nach Paderborn, dort hat er einen Strumpf verloren“. Ist doch nichts dabei, könnte man meinen. Nichts – und zugleich alles.

Aber wo ist das gern unmissverständlich gewünschte „pädagogisch Wertvolle“ bei Janosch, abgesehen vom Misstrauen gegen jede Art Macht und der Ermutigung zur Eigenständigkeit? Mira Lobes Botschaften scheinen heute leichter verwertbar. Die Autorin, der das Wien-Museum derzeit eine Ausstellung widmet, erzählt von der Solidarität mit Ausgegrenzten, dem Abbau von Vorurteilen oder dem Mut zu konkreter Veränderung.

Limobaum und Schluchtenmoos. Sprachlich haben ihre Bücher allerdings mit typischen Bilderbüchern von heute wenig gemeinsam. Die passen sich bewusst an den Sprachstand von Kindergartenkindern an. Gerade die erfolgreichsten Mira-Lobe-Bücher dagegen überschreiten diesen systematisch. Schon „Das kleine Ich bin ich“ kann stilistisch als Zumutung empfunden werden, mit seinen vielen Anaphern, seinen 30-Wort-Sätzen wie: „Auf der bunten Blumenwiese geht ein buntes Tier spazieren, wandert zwischen grünen Halmen, wandert unter Schierlingspalmen, freut sich, dass die Vögel singen, freut sich an den Schmetterlingen, freut sich, dass sich's freuen kann.“ Und erst „Die Geggis“: „Noch während er spricht, sieht er ein Licht. Das Herz wird ihm leichter. Den Ausgang erreicht er und will schon frohlocken... Da schaut er erschrocken und flüstert verwirrt: ,Ich hab mich verirrt.‘“ Das klingt schon eher kompliziert für ein Vorlesebuch. Und dann noch all die unbekannten langen Wörter, wie Limobaum und Krokodil-Automobil, Plitscher-Plätscher-Wasser und Schluchtenmoos... Aber genau solche unbekannten, geheimnisvoll klingenden Wörter haken sich in den Kinderhirnen fest und bringen die Fantasie in Gang – noch mehr, wenn sie als Schimpfwörter daherkommen: „Ich, Rokko Felsgeggi“, lässt Tante Odumei den kleinen Geggi sagen, „bin froh, dass ich ein Felsgeggi bin, und kein blöder Sumpfgatschler und kein öder Schlammwatschler und kein stinkiger Moorhatschler!“

Unzählige Verben setzt Lobe ein, wenn es um Bewegung hin zu anderen geht, im Raum und im Reden, zeigt Angelika Winkler im Buch über die Sprache-Bild-Beziehungen bei Mira Lobe (Studien Verlag). Die Figuren recken, strecken, zausen, zerren, fächeln, flehen, knurren, schnurren, blubbern etc.

Eine Ente schnatterdings... Ob ein dreijähriges Kind schon jedes dieser Wörter versteht, ist egal. Allein der Klang von Sätzen wie „Über Sumpf und Moor steigt der Mond empor“ oder „Du Lügenerzähler, du Sumpfgeggiquäler!“ fesselt. Viele Mira-Lobe-Klassiker sind sprachliche Feuerwerksmusik. Sie strotzen von Reim und Rhythmus, Lautmalereien und Sprachspielereien, wie etwa die absurden Tiergedichte im Band „Zwei Elefanten, die sich gut kannten“: „Eine Ente schnatterdings fuhr Motorrad knatterdings, bis sie endlich flatterdings wasserwärts entfleuchte...“ Das fast Magische daran ist die Wirkung des Vorlesens: Kinder können sich an enorm komplizierten Texten freuen, wenn sie sie vorgelesen bekommen. Was sie noch Jahre später beim Selberlesen überfordern würde, genießen sie aus dem Mund von Erwachsenen. Die sprechen mal schneller, mal langsamer, mal höher, mal tiefer, mal weicher, mal härter – und bringen damit Ordnung in die fremde Wörterwelt. Und genau über diese Sprachmusik führt der Weg zur Sprache, zum Lesen und Schreiben.

Der gereimte „Grüffelo“. „A mouse took a stroll through the deep dark wood. A fox saw the mouse, and the mouse looked good“: So beginnt das Buch „The Gruffalo“. Ist es Zufall, dass „Der Grüffelo“, eines der weltweit erfolgreichsten Bilderbücher der letzten Jahrzehnte, voll von Sprachmusik, von Reim und Rhythmus ist? Seine Schöpferin, die Britin Julia Donaldson, schrieb ursprünglich Musicals und Lieder. Vom Reimen hatte ihr eine Verlegerin ursprünglich abgeraten. Viele fürchten das Gereimte, teilweise zu Recht. Es lässt sich nicht nur schwerer übersetzen, es gut zu machen, ist überhaupt schwer. Man braucht nur die krampfhaft gereimten Kinderbücher zu lesen, mit denen Großeltern von heute aufgewachsen sind, um dem Reimverzicht etwas abzugewinnen.

Aber wo das Reimen kunstvoll geschieht, kann es die Kinder ungemein ansprechen. Die besten Lobe-Bücher gewinnen nicht zuletzt dadurch ihre ganz eigene Melodie. Und diese entspricht ganz dem Inhalt. In „Das kleine Ich bin ich“ fließt sie und stockt dann wieder ängstlich, um zwischendurch „Bumm“ zu machen, wie wenn einer auf die Pauke haut – der Frosch zum Beispiel: „Wer nicht weiß, wie er heißt, wer vergisst, wer er ist, der ist dumm. Bumm.“ Oder die Hauptfigur selbst: „Aber dann bleibt das Tier mit einem Ruck, mitten im Spazierengehen, mitten auf der Straße stehen, und es sagt ganz laut zu sich: Sicherlich gibt es mich: ICH BIN ICH!“

Im Buch „Komm, sagte die Katze“ kommt zuerst eine Flut. Die Katze rettet sich auf einen Baumstamm und lässt dann ein im Wasser treibendes Tier nach dem anderen aufsteigen. Die Bilder und die Geschichte sind wundervoll. Aber der bleibende Kern der Faszination auch für Kinder ist der Sprachklang, etwa im mantraartig wiederholten „Komm, sagte die Katze“. „Der nicht!“, rufen die Tiere, als der Fuchs aufsteigen will, und die Katze sagt: „Doch! Der auch!“

Das Kind ist der größte Sprachkünstler. Ohne die intensive Zusammenarbeit mit Illustratoren wie Susi Weigel, Angelika Kaufmann oder Winfried Opgenoorth wären die Mira-Lobe-Bücher nicht, was sie sind. Aber noch viel weniger wären die Bilder ohne Lobe. Sie liebte Nestroy und Hofmannsthal, Goethe und Schiller, Volkslieder, ließ sich von experimenteller Literatur inspirieren. Und gerade dort, wo ihre Sprache vor sich hin zu blödeln scheint, wie es Kinder mit Sprache gern tun, ist sie am kunstvollsten ausgefeilt: Sprachkunst für die Kinder, die größten Sprachkünstler überhaupt.

Wie man sich mit Fantasie rettet

Sarah hat Probleme in ihrer neuen Schule, speziell mit dem „Goliath“ Gustl, der sie einerseits kujoniert, ihr andererseits nicht von der Seite weicht. Aber Gustl hat eine Schwäche für Geschichten – und Sarah kann blitzschnell die absurdesten und märchenhaftesten Histörchen erfinden, z.B. vom Fahrradboten, der auf den Kirchturm geschleudert wird oder vom Rotkäppchen und dem Katzenhai. Außerdem ist Sarah eine gute Schülerin, was man von Gustl nicht behaupten kann. Renate Welsh erzählt mit herrlicher Fabulierlust: „Sarah spinnt Geschichten“. (Obelisk)

Wie man wilde Kerle wie Max zähmt

Der „wilde Max“ muss ohne Essen ins Bett, weil er frech war. Kaum ist er allein, segelt er übers Meer zu den „wilden Kerlen“. Die sind zwar „fürchterlich“, aber Max bändigt sie mit dem Zauber. Illustrator und Autor Maurice Sendak erschuf die zotteligen Kreaturen 1963 in farbigen Federzeichnungen – mit Kulleraugen, großen Pfoten, einem spitzzahnigen Lächeln und gerade so, dass man nur beinahe Zutrauen zu ihnen fasst. Bald fühlt sich Max einsam und will sein, „wo ihn jemand am allerliebsten hat“. Ein herrlicher Duft holt Max aus seiner Fantasiewelt ins Zimmer zurück, „wo das Essen auf ihn wartete – und es war noch warm“. Mütter wissen eben, wie man wilde Kerle zähmt. (Diogenes)

"Feuer! Auf ihrem Kopf brennt's"

Rothaarig, pummelig und mit vielen Sommersprossen im Gesicht. Viel schlimmer kann es für ein Mädchen nicht kommen. Klar, dass sie in der Schule zum „Opfer“ wird. Als Christine Nöstlinger 1970 ihr Debüt, „Die feuerrote Friederike“, veröffentlichte, gab es Mobbing zwar schon, aber es war noch kein gebräuchliches Wort. Kraut ist dagegen keines gewachsen, aber Friederike hat ja ihre Haare. Die kann sie zum Glühen bringen, behaupten die Annatante und die sprechende rote Katze. Beliebter machen ihre feurigen Fähigkeiten Friederike freilich nicht. Rettung kommt schließlich per Brief vom Vater. Nöstlingers Erstling enthält noch viele zauberische Elemente und ist vielleicht gerade deshalb längst zum Klassiker geworden. (Dtv)

Strategien gegen das Schlafengehen

Der kleine Hase will nicht ins Bett. Vorher will er dem großen Hasen noch bekunden, wie lieb er ihn hat. Nur ist das nicht einfach: Wie sehr sich der kleine Hase auch streckt, wie hoch er auch springt, um zu zeigen, dass er den großen Hasen soooo lieb hat – dieser kann alles weiter, höher, besser. Am Ende einigen sich beide auf die Distanz „bis zum Mond und wieder zurück“ als Messgröße ihrer Liebe. Was lernt kind daraus? Dass man mit gegenseitigen Beteuerungen der Liebe die Schlafenszeit erheblich hinauszögern kann? Dass der Mond sehr weit weg ist? Egal, „Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich hab?“ von Sam McBratney ist eine entzückende Gute-Nacht-Geschichte. (Sauerländer)

Da brauchen wir uns gar nicht fürchten

Viele Kinderbücher funktionieren so: Der kleine Held zieht aus, erlebt Abenteuer und kehrt wieder heim. Janosch hat eine raffinierte Version davon geschrieben: Der kleine Bär und der kleine Tiger suchen Panama, das Land ihrer Träume, gehen in die Irre, brauchen sich dabei aber nie zu fürchten, weil der Bär stark ist wie ein Bär und der Tiger Pilze suchen kann – und am Ende finden sie Panama, zumindest glauben sie das. Dabei sind sie im Kreis gegangen! Hätten sie nicht gleich zuhause bleiben können? „O nein, denn dann hätten sie den Fuchs nicht getroffen und die Krähe nicht. Und sie hätten den Hasen und den Igel nicht getroffen, und sie hätten nie erfahren, wie gemütlich so ein weiches Sofa aus Plüsch ist.“ (Beltz)

Hier sind nicht nur die Gäste seltsam

Wenn Kater Richard Schnurr, der Straßenbahnfahrer, in der Freizeit Vogelfedern sammelt, das Kaninchen Balthasar sich ein Gewitterturmhaus baut und der Igel Ewald eine Trompetenblume, wenn ein verrücktes Krokodil Ballonschiffe abschießt, dann sind wir in der wilden und seltsamen Welt des Erwin Moser. Auch die Elefant-Winzig-Tetralogie ist herzig und geistreich, aber die Gute-Nacht-Geschichten sind unschlagbar; wenn die Kinder schlafen, liest man weiter. Und findet Sätze, die einen durchs Kulturleben begleiten, etwa den Dialog zwischen Herrn und Frau Katzelmeier, die vom Besuch des Dichters Walter Ross enttäuscht sind: „Ein schrecklicher Geselle.“ – „Ja, aber seine Gedichte sind herrlich.“ (Beltz)

Große Grabekrallen verjagen die kleinen

„Wie behaglich, wie geruhsam“, haben meine Eltern immer gesagt, wenn wir Kinder, auch als wir keine Kinder mehr waren, es uns irgendwo gemütlich gemacht hatten. Ein Code aus einem geliebten Kinderbuch, erschienen Anfang der 70er-Jahre. So sprach nämlich der Maulwurf Grabowski, wenn er die nächtliche Ruhe auf seiner saftigen Wiese genoss.

Die Wiese allerdings wird zum Baugrund, Baggerkrallen und Lärm schlagen den Maulwurf in die Flucht. Er riskiert sein Leben, aber findet ein neues Zuhause. Ein Buch, das berührt ohne zu belehren. Text und Zeichnungen merkt man das Alter nicht an. Und unter jeder grünen Wiese wohnt fortan der Maulwurf Grabowski mit dem samtenen Fell. (Diogenes)

Entlein Watschel will einfach Spaß haben

Zehn mal zehn Zentimeter groß, jeweils 24 Seiten dick, handlich also und immer schön bunt – das sind die Pixi-Bücher, mit denen Generationen von Kindern lesen gelernt haben. Seit sechzig Jahren gibt es sie, tausende, mit einer Gesamtauflage von inzwischen 450 Millionen. Welches wählen? Man möchte sie alle wieder haben! Da findet sich eines von 1960, Nummer 27: „Die kleine Watschel-Ente“ darf machen, was sich Dreijährige wünschen. Sie will raus in die Welt. Die Entenmutter gibt ihr für den Ausflug einen Picknick-Korb: „Hier, Kind, lauf – und viel Spaß!“ Schon rennt Watschel mit uns los, auf zehn mal zehn Zentimetern, in ein tolles Abenteuer. (Carlsen)

Sieben Geißlein aus japanischer Sicht

Sieben Geißlein mit dreieckigen Köpfen, aufgestapelt zu einer Pyramide, ein Wolf, lieb und herzig, mit einem gelben Blümchen, nur die weißen Zähne verraten seine Absicht: Die Japanerin Keiko Kaichi hat Grimms Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein bezaubernd neu illustriert. Minedition bietet noch weitere Märchenklassiker, von Künstlern bebildert, etwa „Die Schneekönigin“ (von der Russin Yana Sedova) oder „Der Adler und der Zaunkönig“ (von Alexander Reichstein, ebenfalls in Russland geboren), Jane Goodall hat dieses Märchen neu erzählt.

Konrads Kampf mit seinem Schatten

Konrad ist an allem schuld, und er ist sauer: Er hat keine Mitschüler im Klo eingesperrt und auch nicht Frau Schulzes Vogel freigelassen. Ein Schemen folgt ihm auf Schritt und Tritt, sein Schatten. Konrad will ihn loswerden, er rennt davon, er rubbelt ihn weg, er versucht ihn abzuschneiden, zu übermalen. Eines Tages hat Konrad eine zündende Idee – endlich ist er den Schatten los. Doch da kommt ein Rudel Hunde, die Bestien wollen den Buben beißen, in letzter Minute wird er gerettet... Der Illustrator und Autor Matze Döbele erzählt diese unheimliche Geschichte in starken, düsteren Bildern. (Kunstanstifter)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.11.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.